Klatsche für die Regierungsparteien – rechter Durchmarsch – kleine linke Erfolge
1. Krise der EU
Die Wahlen zum EU-Parlament vom 06. – 09. Juni 2024 haben keine großen Überraschungen hinterlassen. Die im Grunde schon mindestens drei Amtsperioden seit 2009 andauernde tiefe Krise der Europäischen Union kommt auch in den aktuellen Wahlergebnissen zum Ausdruck. Sowohl die Finanzkrise von 2008, die Euro-Krise von 2011, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015, die Corona-Pandemie von 2019 und die Ukraine-Krise seit 2022 haben das Gemeinschaftsprojekt der europäischen kapitalistischen Staaten in eine fortdauernde Krise ihres Selbstverständnisses, ihrer Strukturen und ihrer ideologischen Verankerung bei der Bevölkerung geführt. Die Folgen waren der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg von rechts-nationalistischen Parteien in fast allen Mitgliedsstaaten, die jede weitere Vereinheitlichung in Richtung eines europäischen Staates erschwerten; die Krise der zentralen EU-Strukturen und des Euro, die immer mehr die Entwicklungstendenzen und -geschwindigkeiten in den einzelnen Mitgliedsstaaten auseinandertrieb; die permanente Notwendigkeit, von den eigenen Vertragsgrundlagen der EU abzuweichen, um tagespolitische Notmaßnahmen zu realisieren. Der Neoliberalismus als dominierende Achse im Selbstverständnis der EU und Grundlage der Verträge von Maastricht und Lissabon geriet als Handlungsrichtlinie ins Wanken zugunsten von Staatsinterventionismus und nationalstaatlich begrenzter Klientelpolitik. Ehrgeizige Projekte der EU, mit denen der Konkurrenzkampf mit den internationalen Hauptkonkurrenten USA, China, Japan verbessert werden sollte – beim Kampf gegen die Klimakrise, der klimaneutralen Transformation der Industrie, einer gemeinsamen Politik gegenüber Flucht und Migration, der Entwicklung eines eigenen militärischen Sektors innerhalb, oder gegebenenfalls auch gegen die Nato – erlitten Rückschläge.
In dieser verallgemeinerten Krise der EU gewannen bei den 2024-Wahlen überwiegend die Kräfte, die sich kritisch zur EU positionierten und/oder wenig exekutive Verantwortung für die EU-Politik übernommen hatten. Das sind teilweise rechts-nationalistische Parteien, die seit Jahren großen Zulauf erhalten und längst das Stadium von temporären Protestparteien hinter sich gelassen haben. Sie sind Fundament einer tiefen Rechtsverschiebung im Massenbewusstsein und Basis von autoritären, gut verankerten Parteien.
Vereinzelt können auch linke EU-kritische Parteien bei den aktuellen Wahlen Erfolge verbuchen. Und fast gänzlich verschwunden, eigentlich nur auf die Partei VOLT beschränkt, sind die Erfolge der Parteien ohne Regierungseinbindung, die mit EU-Euphorie und „Jetzt-erst-recht-Demagogie“ auf Stimmenfang gegangen sind.
In den meisten Mitgliedsstaaten waren die EU-Wahlen stark von innenpolitischen Fragen und Auseinandersetzungen bestimmt und fast überall wurden die regierenden nationalen Parteien abgestraft.
Die Legitimationskrise der EU und der sie tragenden Mitgliedsregierungen ist mit diesen Wahlen von 2024 nicht gemindert, in vielen Aspekten verschärft worden.
Die beiden wichtigsten EU-weiten Themen, aber jeweils auch mit großer nationalstaatlicher Gestaltungsvielfalt, waren der Krieg in der Ukraine und die Aufrüstung der EU einerseits und die Politik gegenüber Flüchtlingen andererseits. In beiden Fragen gibt es eine ganz breite Gemeinsamkeit fast aller Regierungsparteien. Allein beim Thema Ukraine sind einige kleinere EU-Staaten nicht ganz so krass auf Nato- und USA-Kurs. Der Wunsch nach mehr EU, nach einer ausgebauten Festung Europa einerseits, die tiefe Legitimationskrise des konkreten EU-Projektes andererseits – das ist die Lage im EU-Europa 2024.
Auf die europäische Gesamtsituation und die Ergebnisse in einzelnen Ländern wird an anderer Stelle tiefer eingegangen, hier soll im Folgenden nur die Auswertung der Wahlen aus deutscher Sicht ausgeführt werden.
2. Das Ergebnis in Deutschland
Das Ergebnis der EU-Wahlen für Deutschland ist ebenfalls nicht überraschend. Es zeichnete sich geraume Zeit ab und wurde durch die demoskopischen Ergebnisse weitgehend korrekt angekündigt – seit langem war es mal wieder eine Wahl, ohne gravierende Fehleinschätzungen der demoskopischen Institute.
Die herausragenden Ergebnisse sind: Starke bundespolitische Impulse und eine dicke Klatsche für die regierenden Ampelparteien; große Erfolge für die rechtsnationalistische „Alternative für Deutschland“; fast das Todesglöckchen für die Partei DIE LINKE; eine erstaunliche Höhe und Stabilität bei der Wahlbeteiligung, was im starken Maße auf die gute Mobilisierung der AfD und einigen der Klein- und Neuparteien zurückzuführen ist, bei denen bei dieser Wahl eine Stimme nützlich und nicht vertan war. Unter den letzteren ragt das neo-konservative „Bündnis Sahra Wagenknecht“ hervor.
3. Legitimationskrise der Ampelregierung
Ein Jahr vor den planmäßig nächsten Bundestagswahlen stürzen die Ampelparteien der Bundesregierung weiter ab. Die GRÜNEN verlieren fast drei Millionen Stimmen und 8,6 Prozentpunkte. Sie waren fünf Jahre zuvor angetreten, mit der CDU/CSU um den Platz 1 bei den bürgerlich-kapitalistischen Parteien zu streiten, und haben dabei einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Wie immer bei Koalitionsregierungen trifft das Abstrafen bei Wahlen eine Koalitionspartei besonders – diesmal hat es die GRÜNEN erwischt. Das hängt auch damit zusammen, dass die letzten fünf Jahre EU-Politik stark vom Thema Klima- und Umweltpolitik bestimmt waren, bei denen die GRÜNEN den größten Absturz von der Wunsch- zur Realpolitik erlebten.
Die SPD erreichte mit 5,5 Millionen Stimmen einmal mehr das „historisch schlechteste“ Wahlergebnis. Kein Kanzlerbonus, keine partiellen Neu-Erfolge von Schwesterparteien in anderen europäischen Ländern und keine relativ hohe Wahlbeteiligung haben die SPD vor diesem Absturz geschützt.
Die FDP hat einen aggressiven Wahlkampf auch gegen ihre Koalitionspartnerinnen geführt und immerhin mit 2 Millionen Stimmen fast das Ergebnis der Vorwahlen halten können. Ein echter Kollateralnutzen des FDP-„Erfolgs“ ist, dass die übelste Kriegstrommlerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann jetzt im goldenen Käfig des EU-Parlaments ihre prallen Diäten abholt und nur noch selten in der Bundespolitik wahrgenommen werden wird.
Die Ampelparteien sind derart in der politischen Legitimationskrise angekommen, dass eigentlich nur noch baldige Neuwahlen angesagt wären. Allein das schnöde Festkrallen an den parlamentarischen Pfründen hindert die drei Koalitionsparteien daran, diese Notbremse zu ziehen.
Die CDU/CSU hat mit knapp 12 Millionen Stimmen ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis bei einer bundesweiten Wahl erzielt – und feiert sich trotzdem als Siegerin.
Gleichermaßen überragende, wie auch gemeinsame Themen waren der Ukraine-Krieg und die Migrationspolitik. In der Flucht- und Migrationspolitik trotten alle europäischen Regierungsparteien den Forderungen der rechten und faschistischen Kräfte hinterher, wenn sie nicht gleich zu den Antreiber:innen gehören. In der Politik des Aufrüstens und der Kriegsunterstützung der Ukraine gibt es Unterschiede in den Mitgliedsstaaten, aber der harte auf immer mehr Waffenlieferungen orientierte Kurs Deutschlands und Frankreichs ist klar der dominierende. Ähnliche Meinungsverschiedenheiten der Mitgliedsstaaten gibt es auch bei der Frage der Unterstützung Israels im Gaza-Krieg, aber auch hier dominiert das deutsche Diktat.
Mit den Freien Wählern (3 Sitze), der Familienpartei, der Partei des Fortschritts (je 1 Sitz) ziehen drei weitere konservative Parteien in das Parlament ein. Die Tierschutzpartei (1 Mandat), die ÖDP (1 Mandat), Volt (3 Mandate) und Die Partei (2 Mandate) sind Parteien, die mindestens manchmal fortschrittliche oder linke Positionen einnehmen. Dazu kommt das in eigenen Worten „linkskonservative“ Bündnis Sahra Wagenknecht mit 6 Sitzen.
4. Die AfD – keine Protestpartei mehr
Die AfD hat gut zwei Millionen Stimmen neu gewonnen und jetzt 6,4 Millionen Stimmen (15,9 Prozent). Sie konnte dieses Ergebnis einfahren, obwohl sie gleich zwei Spitzenkandidaten während des Wahlkampfes zurückziehen musste, obwohl sich die ihr anhaftenden Skandale und kriminellen Aktivitäten gerade im Wahlkampf (Zufall??) vermehrten beziehungsweise aufgedeckt wurden. Auch die großen Straßenmobilisierungen vom Frühjahr, bei denen republikweit 3,5 Millionen Menschen gegen die AfD demonstrierten, konnten die breite wahlpolitische Verankerung der AfD in der Bevölkerung nicht verhindern.
Nicht nur diese Fakten, sondern auch die Konstanz der Wahlerfolge der AfD und der hohe Anteil an Stamm- und Wiederholungswähler:innen zeigt, wie falsch die These ist, bei der AfD handele es sich um eine Protestpartei mit nur temporärem Zuspruch an den Wahlurnen. Auch die wissenschaftlich etwas strittigeren Wahlnachfragen ergeben einen sehr hohen Anteil von Wählerinnen und Wählern der AfD, die genau wissen und wollen, was sie da gewählt haben.
Die AfD prägte die beiden die Wahlen bestimmenden Themen: Erstens der Krieg in der Ukraine und die massiven Investitionen der EU-Staaten in die Unterstützung der Selenskiy-Regierung sowie zweitens die Flucht- und Migrationspolitik. Dazu verfolgte die AfD eine etwas abgerüstete EU-Kritik, vor allem in Sachen Bürokratie und Vernachlässigung der nationalen Interessen. Mehr war inhaltlich für den Wahlerfolg nicht erforderlich.
Es manifestiert sich hier ein breiter und tiefgehender Rechtsruck in der Gesellschaft. Dessen erste und beabsichtigte Folge ist, dass alle anderen Parteien unter Druck gesetzt werden, sich ebenfalls nach rechts zu bewegen. Das Image der AfD, sie sei die Partei, die das fordert und machen wird, was sich die „Altparteien“ nicht trauen, entspricht genau dem Vorbild aller rechtsradikalen Parteien vor ihr. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich CDU, CSU, SPD, FDP, GRÜNE diesem Druck beugen, um keine Stimmen zu verlieren, sondern höchstens noch Ausmaß und Tempo dieses Umfallens – wenn die Regierungsparteien nicht gar im vorauseilenden Gehorsam die Politikwünsche der AfD ohne Druck erfüllen.
In den Ostbundesländern ist die AfD mittlerweile Mehrheitspartei. Dort entwickelt sie auch vermehrt Strukturen einer dauerhaften gesellschaftlichen Verankerung und operiert nicht nur als Wahlpartei und in Wahlkämpfen.
Die bürgerliche Politik kennt als Mittel gegen Rechts nur den moralischen Appell, dass dies alles Bäh sei, kombiniert mit Anpassung nach Rechts in der konkreten Politik. Diese Politik ist so gut wie immer Garant des weiteren Erfolges der Rechtsparteien. Das gilt auch für die AfD – unabhängig davon, was die gerade sagt, macht oder welche Personen sie an die Spitze stellt.
Die bürgerlichen sowie linksliberalen und sozialdemokratischen Kräfte haben der AfD im Wahlkampf wieder einmal nur das „Geht Wählen“ entgegengehalten, in der Hoffnung, dass bei hoher Wahlbeteiligung die üblichen bürgerlichen Parteien die Sieger:innen wären. Aber das ist nicht mehr so. Eine hohe Wahlbeteiligung nützt heute eher der AfD.
Eine wirkliche Kampagne gegen die AfD müsste natürlich weit vor Wahlkampfbeginn anfangen und lange nach dessen Ende weitergehen. Es geht um den Aufbau einer von nachhaltigen Strukturen getragenen gesellschaftlichen Bewegung mit anderen, menschlicheren, demokratischeren Inhalten: Gegen Rechts hilft nur links.
5. Desaster für die LINKE
Die LINKE hat die erwartete schwere Schlappe bei den EU-Wahlen erlitten. Die AKL und andere Autorinnen haben diesen desaströsen Ausgang ziemlich präzise vorhergesagt. Ein Programm ohne Überzeugungskraft gegenüber den Wählerinnen und Wählern und ohne Integrationskraft gegenüber den Mitgliedern – so lautete das Fazit der Programmkritik. Dazu eine Wahlstrategie die sich nicht entscheiden konnte zwischen EU-Euphorie à la VOLT und systemischer Kritik an Grundlagen und Realität der EU à la BSW. Wie schon bei drei EU-Wahlen zuvor hat sich die LINKE systematisch von jeglicher Überzeugungskraft gegenüber den Wählerinnen und Wählern selbst entleibt. Sie konnte auf die zentrale Eingangsfrage bei EU-Wahlen – wie hältst du es mit der EU? – schon keine Antwort mehr geben.
Diese Krise der LINKEN angesichts der EU-Wahlen kombinierte sich mit der generellen Krise, in der die Partei steckt und die mit der Abspaltung des Sahra-Wagenknecht-Fanclubs nicht zu Ende ging.
So verlor die LINKE die Hälfte ihrer Stimmen von 2019 und bekam nur noch gut eine Million Stimmen, die für drei Mandate in Brüssel reichen. Ein Mandat erhält die von der AKL besonders unterstützte Özlem Demirel – das ist erfreulich und wir gratulieren. Insbesondere in den ostdeutschen Ländern stürzte die LINKE geradezu ab, bei zeitgleichen Kommunalwahlen in mehreren Ländern waren die Ergebnisse für die LINKEN ebenfalls und in gleicher Größenordnung ernüchternd. Die wissenschaftlich immer ungenauen „Wählerwanderungsuntersuchungen“ ergeben dennoch die klare Aussage, dass die LINKE den größten Teil ihrer Wähler:innen an die Nichtwählenden und das BSW verloren hat.
Die Krise der LINKEN ist – so die Analyse aus den Reihen der AKL von vor den Wahlen – dreifach:
Erstens eine strukturelle Krise, die sich im Übergewicht der parlamentarischen Fraktionen und der Schicht von Berufspolitiker:innen ausdrückt, das zu einem lähmenden Strukturkonservativismus in den Führungsreihen der LINKEN führt. Es wirkt wie in vielen linken Parteien vor ihr auch in der LINKEN die Dialektik der partiellen Errungenschaften, in der parlamentarische und sonstige materielle Erfolge der Partei gleichzeitig auch zu Hemmschuhen bei der weiteren Parteientwicklung werden. Es erwuchs daraus auch die ebenfalls aus der Geschichte nicht unbekannte Dauermachtprobe zwischen den Fraktionen und den Vorständen der Partei, bei der sich letztlich immer die Fraktionen durchsetzen.
Zweitens eine strategische Krise, weil die jahrelang verfolgte Durchsetzungsstrategie mittels gemeinsamer Regierungen mit SPD und GRÜNEN sich restlos blamiert und als Irrtum herausgestellt hat. Dort, wo es zu solchen Regierungen kam, wurde nur mittelprächtige Kapitalismusverwaltungspolitik wie von anderen Parteien auch zelebriert; und dort, wo von solchen Regierungen nur geträumt wurde, war die irreale Desorientierung in Richtung eines hoffnungslosen Reformertums noch verheerender.
Alternative Strategien wie das Konzept der „verbindenden Klassenpolitik“ im Rahmen einer Mosaik-Linken konnten sich nicht durchsetzen. So reduzierte sich das politische Auftreten der LINKEN immer mehr zu Wahlkämpfen zum Selbstzweck, die zwar immer professioneller und materialreicher ausgestattet waren, aber zu keiner realen Wahrnehmung oder gar gesellschaftlichen Verankerung der Partei führten.
Drittens eine programmatische Krise. Je länger die beiden zuvor genannten Krisenprozesse andauern, desto schärfer werden die Auseinandersetzungen in der Partei auch auf grundlegende programmatische Fragen ausgedehnt. Das wird – wie in der konkreten Realität Deutschlands in den letzten zwei Jahrzehnten – dann besonders evident, wenn gesellschaftliche Großkrisen auftauchen und wichtige politische Fragen neu stellen. Das war im Laufe der Geschichte der LINKEN mit der andauernden und sich verschärfenden Klimakrise, der Finanzkrise 2008, der Euro-Krise 2011, der „Flüchtlingskrise“ 2015, der „Corona-Krise“ 2019, der Ukraine-Krise seit 2022 und der neu eskalierten Nahostkrise seit 2023 fast die gesamte Dauer des Parteilebens der Fall.
Nach dem Streit mit dem Wagenknecht-Lager über die Migrations- und Fluchtpolitik, verschärfen sich seitdem stetig die großen Fragen zur Haltung zu Nato und Bundeswehr, zu einer wirklich radikalen (oder wie der gerade verstorbene Ex-Umweltminister Toepfer sagen würden „revolutionären“) Klimapolitik; zur Einschätzung der EU und drängen auf eine klare Positionierung.
Für die Lösung dieser Krisen hat die AKL seit langem sehr konkrete Vorschläge gemacht und erfreulicherweise werden sie heute in Beiträgen von anderen Autor:innen und Strömungen in der LINKEN aufgegriffen:
Die strukturellen Verwerfungen können nur durch eine bewusste Reglementierung der parlamentarischen Arbeit aufgefangen werden. Sie muss zugunsten eines realen und nachhaltigen Aufbaus wirklicher gesellschaftlicher Parteistrukturen im Stadtteil, Betrieben und sozialen Bewegungen zurückgedrängt werden. Immer wieder in der Partei entwickelte Vorschläge zur Mandatszeitbegrenzung, gegen die Ämterhäufung, für eine Trennung von Amt und Mandat sowie gegen jede materielle Privilegierung durch hauptamtliche politische Arbeit sollten umgehend aufgegriffen und umgesetzt werden.
Eine neue strategische Aufstellung der Partei DIE LINKE muss von einem umfassenden Oppositionsverständnis ausgehen. Das planlose Mitregieren oder Träumen von solchen muss beendet werden. Der Aufbau einer in der Gesellschaft verankerten Partei kann nur mit einer klar erkennbaren Identität als linke, sozialistische und basisdemokratische Partei gelingen. Die LINKE ist objektiv die einzige Klassenpartei, ohne Unternehmensspenden und nur getragen von der Aktivität ihrer Mitglieder. Sie muss eine solche Klassenpartei aber auch im subjektiven Selbstverständnis und in der Wahrnehmung bei den Menschen werden.
In der programmatischen Debatte und Selbstfindung – nicht nur, aber besonders zu den genannten Themen – benötigt die LINKE den Mut zu radikalen Positionen und revolutionären Übergangsforderungen, die den Kapitalismus herausfordern. Zu Systemfragen muss die LINKE auch Systemantworten geben – andernfalls geht sie unter.
Für eine demokratische Programmdiskussion – aber auch für kleinere Entscheidungsprozesse – braucht die LINKE allerdings auch neue Diskursformen und -techniken. Sie muss lernen, in Alternativen zu denken und mit Mehrheits- und Minderheitspositionen offen umzugehen. Die bisherige Praxis des Wegwischens aller Differenzen und einer von oben verordneten Harmonie war vielleicht im Gründungsprozess der LINKEN sinnvoll und nötig, ist heute aber ein zerstörerisches Kulturdefizit im parteiinternen Leben.
6. Der Erfolg des BSW
Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat sich Anfang des Jahres entschieden, auf die Krise der LINKEN mit einer Abspaltung zu antworten. Sie hat dabei alle in der LINKEN aufkommenden Fragen katastrophal falsch beantwortet:
Den Parlamentarismus und seine negativen Folgen auf die Partei möchte das Bündnis Sahra Wagenknecht mit noch mehr und noch exklusiverer Orientierung auf Wahlkämpfe und Parlamentsarbeit überwinden.
Die strategischen Durchsetzungsdefizite der LINKEN will das BSW mit einer völlig unspezifischen Orientierung auf eine „Regierung der Vernunft“ und Koalitionsoffenheit bis hin zu CDU und AfD ausfüllen.
Die programmatische Herausforderung möchte das BSW durch noch mehr aufgeweichte, und klassenunspezifische Positionierungen in den großen Streitfragen und eine massive Öffnung zu bürgerlichen, konservativen und auch offen rechtsradikalen Positionen beantworten.
Und die Diskursunfähigkeit der LINKEN beantwortet das BSW mit ausgeprägtem Bürokratismus und Überzentralisierung im Parteiaufbau sowie einem mittelalterlichen Personenkult um die Führungsfrau und Namensgeberin.
Um diese geballte Konzentration von Fehleinschätzungen zu bändigen, schreckt das BSW nicht vor gröbsten Erfindungen einer Schein- und Wunschrealität zurück. Die noch gesteigerte Übernahme der bürgerlichen Lüge von einer Bedrohung durch Flüchtlinge und Migrant:innen ist nur schwer auszuhalten. Die Legende eines Vasallenstaats Deutschland und der fehlenden Souveränität der EU ist schlicht falsch. Die gesamte Theorie-Konstruktion des BSW, die Krisen der Gegenwart – von der Klimakrise bis zum Krieg – seien allesamt Folgen eines versagenden Staates, der folglich von seinen Verräter:innen und unfähigen Führer:innen befreit werden müsste, ist definitiv nicht links, sondern Baustein auch von rechten und Verschwörungstheorien. Auf jeden Fall ist sie ebenfalls schlicht falsch.
Das BSW ist nach eigenem Bekenntnis nicht links, sondern stehe „rechts von der SPD und links von der CDU“. Das ist schon gut zusammengefasst, auch wenn die eine oder andere Entwicklung des BSW noch offen sein mag.
Nicht trotz dieser inhaltlichen Defizite und Fehlorientierungen, sondern wegen ihnen konnte das BSW – auch gefüttert durch ansehnliche private und Unternehmensspenden – bei ihrem ersten Wahlantritt bei der EU-Wahl ein beachtliches Ergebnis einfahren. Gut 2 Millionen Stimmen bescherten ihr 6 Mandate im neuen Brüsseler Parlament. Stimmenfang durch opportunistische Unschärfe – da ist das BSW nicht die erste Partei, die damit kurzfristig Erfolge erzielt. Es ist Stellvertreterpolitik, die sich da ausdrückt und das Gegenteil von der zur Überwindung des Kapitalismus erforderlichen Selbstermächtigung der Menschen ist.
Das laut propagierte Ziel, diese Stimmen vor allem von der AfD zu holen, wurde erwartungsgemäß nicht erreicht. Auch im nationalistisch-konservativen Sektor (ob linkskonservativ, wie es das BSW von sich behauptet, oder rechts-konservativ relativiert sich in erstaunlicher Geschwindigkeit, wie die letzten Wochen schon gezeigt haben) wählen die Menschen lieber das Original AfD als die Kopie BSW. So kamen das Gros der Stimmen für das BSW von der SPD, der LINKEN und von bisher Nichtwählenden.
Das BSW etablierte sich damit potzblitz als „linker Flügel des allgemeinen Rechtstrends“ bei den Wahlen und wird auch in der öffentlichen Wahrnehmung so verortet. Allein Friedrich Merz darf in seiner begnadeten Beklopptheit noch von einer „linken Gefahr“ schwätzen, die vom BSW ausgehe.
Für die LINKE ist das Kapitel BSW damit abgeschlossen. Eine Wiederannäherung ist so gut wie ausgeschlossen. Ein großer Teil der Führungsriege des BSW hat noch eine sehr junge Vergangenheit in der LINKEN. Der entwickelt deshalb verständlicherweise erst einmal einen Drang, eine eigene Parteiidentität aufzubauen und schreckt dabei schon seit Wochen nicht davor zurück, regelmäßig Lügengeschichten über die LINKEN zu erzählen.
Für die LINKE ist diese Abspaltung aber keine Beendigung der Probleme, die zur Abspaltung führten. Sie muss sich entlang der hier skizzierten Lösungswege wirklich neu aufstellen. Das wird nicht ohne neue Leute im Vorstand und auf den Listen zu den kommenden Wahlen klappen. Der kommende Parteitag in Halle sollte für diese Neuaufstellung bereits die ersten Weichen stellen und Entscheidungen treffen.
14.06.2024