Für eine würdevolle Entwicklung in Griechenland

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Stellungnahme des AKL-Länderrates zur aktuellen EU-Debatte in der Fraktion der LINKEN im Bundestag

1.
Gregor Gysi hat der Fraktion der LINKEN im Bundestag eine Resolution zur Beschlussfassung in der aktuellen EU-Debatte vorgelegt („Auftreten für einen Neustart“ in der Fassung vom 18. September 2015), die die Politik der LINKEN gegenüber ihren bisherigen Beschlüssen zur EU in Partei- und Wahlprogrammen nicht weiterentwickelt, sondern lähmt, im schlechten Fall sogar weit zurückwerfen wird.
Gleichzeitig wiederholt diese Resolution einmal mehr die Unterschätzung der Krise der Europäischen Union und damit des zentralen Projektes der herrschenden europäischen Kapitalkreise unter der Führung der deutschen Regierung.
Die Fraktion sollte sich diese Resolution und die in ihr ausgedrückte Analyse nicht zu eigen machen und den Antrag des Fraktionsvorstandes ablehnen.

2.
Es findet auf dem realen Hintergrund der Intervention der EU in die Ukraine, der verheerenden Erpressungspolitik der EU und des IWF gegenüber Griechenland, angesichts des massenhaften Anrennens von Flüchtlingen an die Festung Europa und des furchtbaren Elends und Sterbens tausender Menschen dabei und in Kenntnis der ökonomischen Krise mit Massenerwerbslosigkeit und Armut in großen Teilen Europas, tatsächlich eine breite Debatte über die EU statt. Große Teile der Linken in Europa und zahlreiche Ökonom*innen, Menschenrechtler*innen und Umweltschutz-Expert*innen führen diesen Debatte schon lange nicht mehr abstrakt, sondern als Bilanz der realen EU-Politik und mit der Perspektive, diese EU zu verlassen und komplett neu zu gestalten. Ebenso bekommen diverse Parteien der Rechten Massenzulauf mit einer scharfen Kritik an der EU, deren Unterstützung nur dann beendet werden kann, wenn die Linke und in Deutschland die Partei DIE LINKE die begriffliche und politisch-strategische Hegemonie in dieser EU-Debatte gewinnt.
Der Resolutionsvorschlag des Fraktionsvorstandes beginnt mit der müden Wiederholung einer falschen These, dass die Gründung der EU einer höheren Vernunft entspringe, mit dem Ziel aus den verheerenden Zerstörungen der Weltkriege eine „überstaatliche“ Friedensordnung zu schaffen. Diese These wird durch Wiederholung nicht richtiger:
Tatsache ist, dass die heutige EU von ihren ersten Anfängen in den Römischen Verträgen zu keinem Zeitpunkt mehr als ökonomische Ziele verfolgen konnte. Am Anfang wollte sie nicht mehr sein als eine kapitalistische Wirtschaftsunion, die drei Ziele verfolgte: Die Schaffung eines mit den großen Konkurrenten im amerikanischen und ostasiatischen Raum – USA und Japan – vergleichbaren gemeinsamen Binnenmarktes; die Freizügigkeit des Kapitals und drittens die Generierung von Kapitalmacht, die bei den erkennbaren notwendigen Großinvestitionen im Energie-, Verkehrs-, Chemie- und später Informationstechnologie-Sektor den erforderlichen Umfang erreichte. Die nationalstaatliche Verankerung der verschiedenen Kapitalgruppen und eine daraus folgende Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik der jeweiligen Regierungen wurde ausdrücklich nicht in Frage gestellt.
Im späteren Verlauf, als deutlich wurde, dass diese ökonomischen Ziele nicht ohne gewisse politische Vereinbarungen erreichbar und ausbaubar sind, hätte die EU gerne mehr politische Vereinbarungen und überstaatliche Regelungen aufgenommen, aber gerade das Verharren in den alten nationalstaatlichen Strukturen hat nicht mehr als die Gemeinschaftsakte und die ökonomischen Verträge von Maastricht und Lissabon zustande gebracht.
Insbesondere der Kampf um die Neuaufteilung der Weltmärkte nach dem Ende der Staaten, die eine nicht-kapitalistische Zentralverwaltungswirtschaft verfolgten, hat in der EU auch den Wunsch nach mehr Eigenständigkeit in der Außen- und vor allem der Militärpolitik entstehen lassen, aber bis auf wenige Etappen in der Entwicklung eines „ eigenständigen europäischen Anteils“ in den Nato-Entscheidungen ist die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik bisher Wunschdenken. Gerade im Militärbereich geben die EU-Staaten nur ungern Kompetenzen auf europäische Ebene ab. Es besteht die Befürchtung, dass Deutschland seine Machtposition auch in der Sicherheitspolitik durchsetzen möchte und die anderen Staaten sich einem deutschen Europa unterordnen müssen. Aus Perspektive der Linken ist dieses Defizit der EU mit Sicherheit eher eine Wohltat, wenn die aktuelle Debatte in der Flüchtlingspolitik und die Vorschläge von militärischen Schlägen gegen Schleuser oder zu einer Intervention in den Syrienkrieg betrachtet werden.
So war und bleibt die EU ein Projekt des europäischen Kapitals, das sowohl den zwischen seinen Fraktionen stattfindenden Konkurrenzkampf als auch die Macht- und Einflusshierarchien nahtlos abbildet.

3.
Zu keinem Zeitpunkt waren die EWG und später die EU ein „linkes Projekt“. Sie sind ein Kind des Kalten Krieges, an dem nur eine ausgewählte Runde von europäischen Staaten teilnehmen durfte. Spätere Teilnehmer – Spanien, Portugal, Griechenland und später einige der Oststaaten – mussten erst sämtliche politischen Spuren einer nicht-kapitalistischen Entwicklung und entsprechende politische Optionen auslöschen – notfalls mit rigider Hilfestellung der westlichen Staaten und vor allem der Sozialdemokratie und ihrer Parteistiftung – bevor sie aufgenommen wurden.
Die EU hat niemals die Vorherrschaft der Atommächte und die Rolle Frankreichs und Großbritanniens in Frage gestellt. Sie hat immer die Einbindung in die Nato und die militärische Hegemonie der USA akzeptiert. Sie hat in den internationalen Klassenkämpfen – vom Krieg in Indochina, Algerien, Irland, Kuba und anderen Kolonien, über die Revolutionen in Nikaragua und dem Iran bis zur Politik gegenüber Griechenland von heute – immer auf der Seite der Konterrevolution gestanden. Allein die nationalstaatlichen Konkurrenzen innerhalb der EU hat deren Handlungskraft zuweilen eingeschränkt.
Fast alle linken Kräfte und Parteien waren deshalb immer gegen die EU und die weiteren Schritte ihrer Festigung. Von den meisten KP (selbst noch nach den eurokommunistischen Abspaltungen), über die Volksbewegungen gegen die EU-Verträge bis hin zur Opposition der LINKEN in Deutschland gegenüber der Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung. Gleichzeitig wurde die Treue zur kapitalistischen Europa-Gemeinschaft zu einem der Trennungspole bei der Rechtsentwicklung der sozialdemokratischen Parteien.
Leider müssen wir heute – nach zwei EU-Wahlen und der Entwicklung einer tiefen Krise der EU – feststellen, dass insbesondere die deutsche Partei DIE LINKE die linke Kritik an der EU, d.h. die grundsätzliche Infragestellung, nicht annähernd ausreichend vorgetragen hat. Sie ist dadurch ihrer Verantwortung, die stärkste imperialistische Kraft in der EU zu bekämpfen, nicht nachgekommen und sie hat viel potenziellen Einfluss in der gesellschaftlichen Debatte nicht erreichen können oder sogar preisgegeben, traurigerweise selbst an rechte, nationalistische Kräfte.

4.
Das kapitalistische Projekt EU ist in den letzten zwanzig Jahren systematisch zu einem ökonomischen Großprojekt verdichtet worden, das den Konkurrenten in Amerika und Ostasien nicht nur Paroli bieten, sondern sie entscheidend zurückdrängen will.
Und genau dieses Zentralprojekt des europäischen Kapitals ist in eine dreifache tiefe Krise geraten: Eine Krise der politischen Strukturen, eine Krise der ökonomischen Zielsetzungen und vor allem eine Krise der gesellschaftlichen Akzeptanz des Ganzen bei den Menschen auf dem gesamten Kontinent. Oder wie Herr Juncker sagt: „Die EU ist in keinem guten Zustand.“
Trotz aller Bemühungen werden die europäischen Institutionen nicht weniger, sondern immer mehr als aufgebläht, überflüssig und oft als Bedrohung wahrgenommen. Die Beschränkung der Macht des Parlaments und die Allmacht der Exekutive sind nicht nennenswert reduziert worden. Nur eine wachsende bürokratische Kaste, die sich selbst auswählt, kontrolliert und bestätigt, erfährt die EU deshalb noch als eine Errungenschaft. Angeblich offene Grenzen sind für beträchtliche Teile der nationalen Bevölkerungen schon lange nicht mehr offen. Spezialverträge wie der von Schengen werden nach tagespolitischer Opportunität von den Einzelstaaten außer Kraft gesetzt. Selbst die Freizügigkeit der Arbeiter*innen – immer als Gegenschmankerl zur Freizügigkeit des Kapitals verkauft – wird nicht ausgebaut, sondern wieder eingeschränkt.
Die Einführung des Euro hat zwar die Wechselstuben für gut die Hälfte der EU-Bürger*innen abgeschafft, aber gleichzeitig auch zu einer Verschärfung der Ungleichheit und Ungerechtigkeit sowie zum Wachstum der tatsächlichen Armut oder der akuten Drohung mit Armut geführt. Spätestens mit der weltweiten Finanzkrise ab 2007 wurde klar, dass das Gründungsversprechen der Euro-Einführung, sie würde soviel Wachstum in allen Mitglieds-Staaten generieren, dass die realen Gefälle in der Produktivität nicht in den Handelsbeziehungen zum Tragen kommen würden, nichts als Märchenerzählerei war.
Eine europaweite Sozialpolitik ist komplett aus dem Blickwinkel der herrschenden Politik verschwunden und von gewerkschaftlichem Schutz gegenüber dem Raubbau an Löhnen und Renten ist auf europäischer Ebene auch kaum etwas zu sehen.
Deshalb trifft die EU auf große Skepsis und Ablehnung. Die Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen ist auf Tiefstwerte gesunken.
In fast allen EU-Ländern sind bedeutende rechte, nationalistische und teilweise rassistische Gruppen und Parteien entstanden, die ihre sozialdarwinistischen und nationalistischen Positionen hauptsächlich aus den offenkundigen Mängeln der EU befeuern.

5.
Mit der Politik gegenüber Griechenland hat die offizielle EU ihre Unschuld endgültig verloren. Waren alle bisherigen militaristischen und ökonomischen Untaten der EU-Staaten in der Regel noch von der EU-internen Konkurrenz überlagert und deshalb nur als Politik der alten Nationalstaaten erkennbar und kritisierbar, so ist im Falle Griechenlands erstmals ein Familienmitglied der angeblich so tollen und zukunftsfähigen EU-Gemeinschaft brutal drangsaliert und auf den Status einer Kolonie zurückgestuft worden. Die Exekutive hat zugeschlagen und zu einem großen ökonomischen Erpressungsmanöver wie auch zu einer politischen Säuberung einer unbotmäßigen Mitgliedsregierung ausgeholt.
Eine linke Kritik an dieser Politik gegenüber Griechenland darf deshalb in Bezug auf die EU und ihre Institutionen nicht mehr neutral, wohlwollend oder spekulativ sein. Es ist kein Ausrutscher einer ansonsten richtig angelegten Politik, es ist keine Absonderung eines besonders gewalttätigen Mitgliedstaates, Deutschland, sondern es ist die in den aktuellen Gründungsverträgen der EU komplett angelegte Politik, die hier ihr wahres Gesicht zeigt.
Millionen Menschen in ganz Europa wissen das. Die verantwortlichen pro-kapitalistischen Politiker*nnen in allen Regierungen wissen das. Nur die Fraktionsspitze der LINKEN im Bundestag will es offenkundig nicht wahrhaben.

6.
Die bisherige Position der LINKEN, wie sie im Erfurter Programm und mehreren Wahlprogrammen auftaucht, spricht nicht besonders konkret von der Notwendigkeit eines Neustarts der EU. Das ist nicht falsch. Und auch bisher ist jedem in der LINKEN bewusst, dass unter Neustart, nicht nur ein Zurück auf Los zu verstehen ist, sondern die komplette Neugestaltung der Verträge, der Institutionen, eine Abrüstung der Bürokratie und Aufrüstung der Demokratie meint. Neustart heißt für die LINKE schon immer der Aufbau eines Europas von unten und eine Politik der Umverteilung von Reichtum, Vermögen, aber auch von Arbeitszeit und gesellschaftlichen Einfluss. Aber viele Mitglieder der Partei und Funktionsträger der LINKEN haben sich hinter dieser abstrakten „Neustart“-Position auch bequem eingerichtet und dem Status Quo ein Prosit entgegen gebracht.
Mit dieser laxen Haltung muss nach den Griechenlanderfahrungen Schluss sein. Heute müssen wir als LINKE sagen, wir wollen ein anderes Europa gleichberechtigter Völker. Die ersten Forderungen müssen sein:
Sofortige Rücknahme der Erpressung gegenüber Griechenland und die Ermöglichung einer eigenständigen und würdevollen Entwicklung. Wir wollen, dass die bestehenden EU-Strukturen an der weiteren Ausführung ihrer Politik gehindert werden. By all means necessary: Streiks, Massenmobilisierung, Boykott der EU-Strukturen, Aufkündigung der EU-Verträge, Verweigerung des Schuldendienstes und protektionistische Maßnahmen zum Schutz der Lohnabhängigen, kleinen Gewerbetreibenden und Rentner*innen in Griechenland oder anderen betroffenen Staaten.
Auf diesem Hintergrund – und nur auf diesem Hintergrund und nicht als akademischer Plan B eines alternativen Wirtschaftsprofessors – ist auch die Erörterung eines „Grexits“ erlaubt und erforderlich. By all means necessary muss das Diktat der EU-Austeritätspolitik gebrochen werden. Ein solcher „Grexit“ ist nicht der Abschied von einer solidarischen Gemeinschaft der Bevölkerungen Europas oder die Verabschiedung der griechischen Bevölkerung daraus, sondern die Voraussetzung für eine Wiedererlangung einer gleichberechtigten und würdevollen Mitgliedschaft. Welche Formen dieser wirkliche griechische Neustart hat, ist noch völlig offen, kann nicht in der Fraktion der LINKEN in Deutschland und von deren volkswirtschaftlichen „Experten*innen“ entschieden werden. „Grexit“ bedeutet dann aber auf jeden Fall den Eintritt in eine neue Phase eines wirklichen, linken, sozialistischen Internationalismus.

7.
Es ist deshalb nur eine billige Polemik, wenn der Resolutionsentwurf behauptet, die Auflösung der EU wäre ein Rückfall in die Nationalstaatlichkeit des 20. Jahrhundert. Die hat die EU leider niemals überwunden. Und die mit linker Perspektive verfolgte Auflösung der heutigen EU ist kein formales Zurück zum früheren Zustand, sondern ein gesellschaftlicher Prozess, der die alten Defizite des ersten Versuchs der europäischen Vereinigung überwindet.