Warum ich der Selbstinthronisierung der „SpitzenkandidatInnen“ der LINKEN meinen Kniefall verweigert habe.

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Ergänzung zum Bericht von der Parteivorstandssitzung vom 3./4. Dezember 2016

1. Das Vorspiel vom Samstag

Der Parteivorstand der LINKEN hat auf seiner Sitzung am 3. Dezember 2017 eine „Wahlstrategie zur Bundestagswahl 2017“ verabschiedet und einen Entwurf zum Wahlprogramm in einer ersten Diskussionsrunde zur Kenntnis genommen.

Die „Wahlstrategie“ ist ein ambivalenter Text, der sich nicht recht entscheiden kann, ob er eine gestraffte Fassung des Wahlprogramm sein will oder eine Arbeitsanleitung zur Gestaltung des Wahlkampfes im engeren Sinn. Mit „Strategie“ hat das alles in keinem Fall zu tun, vielleicht mit Taktik in der gegenwärtigen politischen Situation und mit handwerklicher Aufstellung der Partei. An diversen Stellen wurde der Entwurf vom geschäftsführenden Parteivorstand durch Anträge aus dem PV geändert und in Richtung klarerer inhaltlicher Positionierung der LINKEN „verschärft“. Der Text beharrt allerdings in völlig irrationaler Weise auf der Vorstellung, dass es bei den Grünen oder vor allem der SPD doch noch irgendeine kleine, aber einflussreiche Gruppe geben würde, die an den Weichenstellungen für eine linke, progressive Regierung aus SPD, LINKE und Grüne arbeiten würde. Diesen „linken Kern“ in der SPD (oder gar den Grünen), den eine geschickte Wahltaktik der LINKEN freilegen und vergrößern könnte, gibt es heute aber definitiv nicht, wie es auch die „klassische“ Differenzierung zwischen einer angeblich rechten SPD-Führung und linken SPD-Mitgliedschaft, die eine linke Taktik vertiefen könnte, nicht gibt. Man braucht heute ganz sicher nicht eine Regierung gemeinsam mit der SPD aus grundsätzlichen, quasi theologischen Gründen abzulehnen. Es gibt in der LINKEN auch (allerdings sehr wenige, und ich definitiv nicht dazu, weil ich mit Staunen die Entwicklung der britischen Labour-Party verfolge) Mitglieder und AnhängerInnen, die eine solche grundsätzliche und ewige Grenze zur SPD ziehen möchten – teils aus sehr zu respektierender persönlicher Erfahrung mit der SPD, teils aus Bücherkundigkeit und Kenntnis der aktuellen Papierlage bei der SPD. Ich habe mit diesen GenossInnen heute keine Probleme. Wer aber – wie das jetzt verabschiedete „Strategiepapier“ –sich weigert, eine präzise Feststellung der heutigen SPD und ihrer höchstwahrscheinlichen Entwicklungsmöglichkeit bis Herbst 2017 zu treffen, der oder die ist weder taktisch noch strategisch klug beraten, sondern leidet an akuter Realitätsverweigerung.

Ich habe wegen dieser Realitätsverweigerung bei der Abstimmung über das Strategiepapier zusammen mit Lucy Redler und einigen wenigen anderen PV-Mitgliedern mit Nein zu dieser Vorlage gestimmt – trotz diverser Änderungen, die auf von mir unterstützte Anträge zurückgehen.

Wie richtig dieses Abstimmungsverhalten ist, hat sich bei der anschließenden Diskussion über den Entwurf für ein Wahlprogramm gezeigt. Der Entwurf fand bei allen DiskutantInnen viel positive Resonanz (so viel, dass ich in meiner Boshaftigkeit vermutet habe, dass das LINKE-typische Massaker mit Änderungsanträgen diesen Ausgangstext möglicherweise nur verschlechtern wird). Darin wird auf jeden Fall deutlich, dass die programmatische Schnittmenge zwischen SPD und LINKE so klein ist, dass allein ein Austausch entsprechender Programmdokumente mit der SPD und den Grünen alle weiteren Sondierungen und Verhandlungen über gemeinsames Regieren selbst dann überflüssig macht, wenn die arithmetische Mehrheit von SPD, LINKE und Grüne bei den Wahlen von 2017 (entgegen aller aktuellen Umfragen) erreicht werden sollte.

Es ist nicht unwichtig für das weitere Geschehen, an dieser Stelle festzuhalten, dass die Fraktionsvorsitzende und der Fraktionsvorsitzende der LINKEN bei diesen Diskussionen zur Vorbereitung des Wahlkampfes 2017 nicht anwesend waren, sich nicht für ihre Abwesenheit entschuldigt hatten oder eine schriftliche Stellungnahme zu den Text-Entwürfen verteilt haben.

2. Das Trauerspiel mit Ansage vom Sonntag

Am Sonntag wurde vier Stunden lang über die Frage der „Spitzenkandidaturen“ gesprochen. Anwesend waren neben dem Parteivorstand, MitarbeiterInnen aus der Bundesgeschäftsstelle und VertreterInnen des Bundesausschuss-Präsidiums die Landesvorsitzenden beziehungsweise LandessprecherInnen der LINKEN in den Bundesländern, einzelne Mitglieder der Bundestagsfraktion und die Vorsitzende und der Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Insgesamt waren nach meiner Schätzung vielleicht 70-80 Personen anwesend.

Das Treffen sollte einen Streit schlichten zwischen der Parteivorsitzenden Katja, dem Parteivorsitzenden Bernd, dem Bundesgeschäftsführer Matthias, der Fraktionsvorsitzenden Sahra und dem Fraktionsvorsitzenden Dietmar über die Frage, wer SpitzenkandidatIn im kommenden Bundestagswahlkampf werden sollte. Gespräche in kleinerer Runde (geschäftsführender Parteivorstand, Sonderabordnungen) hatten diese Schlichtung zuvor nicht erreicht, jetzt sollte es also ein Riesentreffen in einem zu kleinen Versammlungsraum richten.

Jeder oder jede, der oder die alle Sinne beieinander hat, hätte vor Beginn dieses Treffens die sichere Prognose tätigen können, diese Schlichtung des Streites kann und wird hier nicht erfolgen können.

Das Treffen hätte mit einer dieser zwei Regelungen sofort beendet werden können und müssen:

  1. Jede oder jeder wird SpitzenkandidatIn, die oder der es sein möchte. „Alle sind Spitze“ – so lautete mein entsprechender Vorschlag in der Diskussionsrunde am Sonntag.
  2. Keine oder keiner wird SpitzenkandidatIn, weil dieser hanebüchene Anti-Egalitarismus und Promi-Kult komplett wesensfremd für eine linke Partei sind. Ich hatte dies in einem auf der AKL-Seite noch nachlesbaren Brief an den Bundesausschuss bereits vor drei Wochen ausführlich begründet vorgeschlagen. (https://akl.minuskel.de/?p=1658#more-1658)

Eine solche menschlich und politisch kluge Auflösung des Streites wurde aber von allen Hauptbeteiligten und ihren jeweiligen FürsprecherInnen in der Runde verworfen. Es war deshalb vorprogrammiert, dass ein „Kompromiss“ beschlossen wird, der so faul wie heuchlerisch ist. Der von allen Seiten beliebig interpretiert und noch mehr in die Fäulnis getrieben werden kann; der zur Freude der bürgerlichen Medien beliebig in die eine oder andere Richtung zerrissen werden kann, aber immer mit der gleichen Zielsetzung, der LINKEN und ihrem Wahlergebnis 2017 zu schaden.

Ich habe diesem parteischädigenden „Kompromiss“ meine Zustimmung verweigert – und das ist gut so. Ich respektiere alle GenossInnen, die sich enthalten haben, weil das Abstimmungsverfahren sicherlich auch eine Zwickmühle war. GenossInnen, die dafür gestimmt haben, verstehe ich nicht.

3. Geopfert auf dem Altar der Eitelkeiten: Die Parteidemokratie

Es gaben keinerlei Zwang und Notlage, in dieser Art und in dieser Eile zu reagieren. Selbst diejenigen, die den Unsinn vom Nutzen der Deklamation von SpitzenkandidatInnen glauben, werden zustimmen, dass das auch bis zu einem Zeitpunkt hätte verschoben werden, zu dem alle Landesverbände ihre VertreterInnenversammlungen durchgeführt und die Landeslisten aufgestellt hätten. Dann wäre es möglich gewesen, aus 16 Plätzen Nummer 1 und 16 Plätzen Nummer 2 der Landeslisten zwei „SpitzenkandidatInnen“ auszuwählen, oder meinetwegen auch, wie bei der Wahl des Papstes der Kopten in Ägypten, auszulosen. Das hätte zumindest die Parteidemokratie und die Rechte aller KandidatInnen gewahrt.

Einen entsprechenden Antrag von Lucy und mir hatte der Parteivorstand bereits im Oktober abgelehnt, er wusste also, was er tat, wenn er sich dem bescheuerten Ultimatum von Sahra und Dietmar gebeugt hat.

Jetzt kommt z.B. die LandesvertreterInnenversammlung in Nordrhein-Westfalen zusammen und darf nicht mehr wagen, die Spitzenkandidatin zu kritisieren oder herauszufordern. Es ist das gleiche Getue wie es seit Jahren die SPD betreibt und wie es noch anlässlich der Kür von Steinbrück zum Spitzenkandidaten bei den Wahlen von 2013 die LINKE (und zwar Sahra, Dietmar und andere) scharf und spöttisch kritisiert haben. Das mag von der einen oder dem anderen als „banal“ abgetan werden, aber die demokratische Kultur wie auch die kulturvolle Demokratie in der Partei sterben scheibchenweise – und es geht ihnen heute schon so was von dreckig.

Ich werde niemals solchen Anschlägen auf die Parteidemokratie zustimmen und habe es auch nicht auf dieser PV-Sitzung getan. In diesem Fall fällt mir sogar der Respekt für diejenigen schwer, die sich enthalten haben.

4. Geballter Unsinn mit einem Schlag Heuchel-Sahne: Die Spitzenkandidatur

Ich habe in dem oben erwähnten auf der AKL-Seite nachlesbaren Brief ausführlich ausgeführt, dass die gesamte Konstruktion „Spitzenkandidat“ ein einziger Unsinn ist, der insbesondere einer linken Partei, die egalitär und eine gehörige Portion auch antiautoritär aufgestellt sein muss, um anders als die anderen und attraktiv vor allem für die Jugend zu sein, absolut wesensfremd ist. Und wenn interessierte Medien Druck ausüben, dass die Partei sich solche feudalen Strukturen verpassen soll, müsste die gesamte Partei, insbesondere deren Führung diesen Druck kollektiv weglachen.

Ich bleibe dabei: Nur faule ParlamentsjournalistInnen und besonders die, die unverhohlen Schaden bei der LINKEN herbeischreiben wollen, wünschen sich SpitzenkandidatInnen. Warum sich mit 60.000 AktivistInnen rumschlagen, wenn es auch mit nur zweien geht, denen man genüsslich ihre Irrtümer und Unausgeschlafenheiten vorhalten und die Partei gegen sie aufbringen kann?

Und ich bleibe dabei: Neben diesen Schreiberlingen sind es nur die karrieregeilen, konkurrenzbewussten und eitlen GenossInnen selbst, die zur Spitze erklärt werden wollen oder sich selbst erklären möchten sowie deren KonkurrentInnen und KofferträgerInnen.

Jeder weiß, dass die LINKE nicht nur durch die Gesamtheit ihrer Haltung (die zuerst) und ihrer wichtigsten programmatischen Botschaften (die als zweites) auch Stimmen erhält, weil Sahra, Dietmar und andere öffentlich bekannt sind. Dass diese Stimmen politisch auch mal ziemlich problematisch sein können (man lese die tausenden Kommentare zu Sahra im Stil von: du bist toll, deine Partei ist scheiße), zeigt sich immer wieder, aber im Wahlkampf, wenn sich die Menschen jeder einzeln in der Kabine für die LINKE entscheiden oder nicht, freuen wir uns über diese Stimmen wie über jede andere auch.

Kompletter Unsinn ist es aber, dass diese Bekanntheit von Sahra und anderen auch nur eine einzige Stimme mehr anzieht, wenn wir ihr das Etikett „Spitzenkandidatin“ anhängen. Wer damit ernsthaft argumentiert, ist so offenkundig bigott und heuchlerlsch, wie es am Sonntag ein großer Teil der Diskutantinnen und Sahra und Dietmar ganz besonders waren.

Ich werde niemals nur aus Parteiraison irgendwelchem offenkundigen Unsinn und einer damit bunt lackierten Heuchelei zustimmen. Ich billige aber gerne jeder und jedem zu, die Grenze zum Unsinn anders zu ziehen als ich.

5. Sahra auf gefährlichem Holzweg

Ich erlaube mir abschließend, unsere selbsternannte Spitzenkandidatin Sahra auch persönlich hart zu kritisieren. Dass ich sie gleichermaßen auch politisch schätze, möchte ich vorab durch ein Zitat aus meiner Besprechung ihres letzten Buches in der Zeitschrift „Lunapark21“ belegen:

Die Fraktionsvorsitzende der PARTEI DIE LINKE im deutschen Bundestag, Sahra Wagenknecht, hat einen Ruf als scharfe Kritikerin des Kapitalismus – und das ist gut so und nützlich für diverse Arten der gesellschaftlichen Aktivität von Linken und ihrer Organisationen. Wer ihre wunderbaren Reden im Parlament oder auf Versammlungen, Demonstrationen und Parteitagen hört oder sich ihre Auftritte in den Fernsehtalkshows anschaut, vor allem ihre vorzügliche Demontage der selbstherrlichen Machos aus den etablierten Parteien und der ihnen ergebenen Mainstreampresse, der oder die wird immer wieder feststellen: Genau eine solche Stimme hat in Deutschland jahrzehntelang gefehlt. Andere Länder der EU oder die USA kennen solche scharfzüngigen Intellektuellen schon immer, die gleichermaßen die wirklichen sozialen Protestbewegungen ermutigen wie auch immer wieder an ihre eigenen Grenzen erinnern und den Horizont einer weitergehenden grundsätzlichen Kapitalismuskritik aufzeigen. Aber das Land von Marx und Engels hat leider seit vielen Jahren nur die reformistischen Radikalen der Durchschnittlichkeit an die Spitze gespült, die sich darin überschlagen, eine antikapitalistische Haltung hinter Bitt- und Betgesten zu verstecken, hinter Beteuerungen, gar nicht so schlimm zu sein und immer brav mitgestalten zu wollen.“

Aber Sahra ist die treibende Kraft und hat ihren Wunsch, Spitzenkandidatin und möglichst alleinige (Dietmar hat sie unwillig akzeptiert) Spitzenkandidatin zu sein, damit begründet, sie würde der Partei die Stimmen zutragen und die Partei solle ihr neben möglichst unverbindlichen Programmaussagen nicht hineinreden. Es ist die gleiche Haltung wie die berühmte Forderung von Steinbrück nach „genügend Beinfreiheit“ an den Parteitag, der ihn (nachdem er schon lange vorher durch Parteipräsidium und Pressekonferenzen installiert worden war) als Kanzlerkandidaten bestätigte.

Ich habe Sahra am Sonntag daraufhin gesagt, sie stelle die Verhältnisse auf den Kopf. Ohne die Partei und dem ehrenamtlichen unermüdlichen Engagement von knapp 60.000 Mitgliedern, ohne deren Beiträge und sonstigen Opfer könne sie dieses Leben in sorgenfreier materieller Absicherung und mit relativ selbstbestimmter politischer Arbeit von Morgens bis Abends nicht wahrnehmen. Vielleicht wäre sie eine mittelprächtige Wirtschaftswissenschaftlerin mit höchst umstrittenen und schwach belegten Thesen und in wechselnden prekären Anstellungsverhältnissen.

Die Partei hat jedes Recht der Welt, sie scharf zu kontrollieren, ihr Vorgaben zu machen, sie zu bremsen oder sie mit Aufträgen voranzutreiben. (An anderer Stelle habe ich auch ausführlich begründet, dass die Partei auch eine Pflicht dazu hat, der sie wie bei jeder Mandatsausübung am besten dadurch nachkommen kann, wenn diese Mandate strikt befristet werden).

Sahra ist drauf und dran, die Partei DIE LINKE als lästiges Anhängsel ihres eigenen persönlichen Erfolges abzukoppeln. Sie wird, das sage ich voraus, darin bitterlich scheitern, deswegen sollte sie sofort auf diesem Kurs umkehren.

Statt die Partei als Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt ihrer parlamentarischen Arbeit zu nehmen, versucht Sahra mit ihrem Büro, eine fürchterliche Alternative aufzubauen, die sozusagen die Verkörperung aller Fehler der StellvertreterInnenpolitik darstellt. Ich meine das „Team Sahra“. Es ist eine formale Kopie ähnlicher Kampagnenmittel speziell in den USA (die dort als Surrogat für fehlende linke Massenparteien aufgebaut werden, aber immerhin Inhalte und organisatorische Ziele setzen).

Wer sich diese internetbasierte „Team-Sahra“- Sache anschaut, Reaktionen und Unterstützung analysiert kommt nur zu einem traurigen Ergebnis: Diese Kampagne ist eher eine Aufzuchtstation für rechte, nationalistische Schreihälse, allenfalls pseudo-links kaschierten Sozialdarwinismus als ein Forum für linken Aktivismus.

Sahra sollte diese Seite und Kommentare sofort streng vom rechten Müll säubern (und das bezieht sich als erstes auch auf die von ihr verbreitete These vom „Staatsversagen“ während der Merkel-Regierung) und sie kurzfristig schließen und auf kollektive Aktivierungsformate der LINKEN, die es ausreichend und gut gibt, umlenken.

Mein Nein zu Sahras Selbstinthronisierung als Spitzenkandidatin hatte letztlich also auch einen guten Schuss scharfer Kritik an Sahra und ihren politischen Positionen. Ich werde Stellvertreterpolitik und unscharfes Vermengen von rechts und links immer kritisieren und meine Stimme dagegen erheben und abgeben. Nicht Staatsversagen ist das Problem der Stunde, sondern Systemversagen. Nicht allein Umverteilung ist die Lösung, sondern Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse.

Köln, 05.12.2016

Thies Gleiss