Anmerkungen zu den Protesten gegen den G-20-Gipfel
Florian Wilde, Mitglied der Partei Die Linke, war beteiligt an den Vorbereitungen zu den Protesten der G-20-Gegner*innen. Er kommentierte seine Sichtweise auf die Ereignisse in Hamburg zuerst in der Tageszeitung Junge Welt.
Dieser Text wurde redaktionell geändert: Die AKL setzt sich für die Überwindung jeglicher Diskriminierung ein. Eine Sprache, die nur Männer kennt, kann von uns nicht stehen gelassen werden.
Die Bilder der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die die Berichterstattung über die Proteste gegen den Hamburger G-20-Gipfel prägten und nun für eine breitangelegte Kampagne gegen die gesamte Linke instrumentalisiert werden, dürfen nicht vergessen machen, dass die Proteste ein großer Erfolg waren. Trotz wochenlanger medial befeuerter Angstmache und trotz der Einschüchterung durch einen Polizeistaat ist es gelungen, den größten Protest gegen ein solches Spitzentreffen in der deutschen Geschichte zu organisieren und Zehntausende auf die Straße zu bringen. Die Demonstration »Grenzenlose Solidarität statt G 20« am Samstag, dem 8. Juli, mit 76.000 Teilnehmer*innen, wie die Veranstalter*innen angaben (die Hamburger Morgenpost zählte sogar 100.000) war die größte in Hamburg seit mehr als 30 Jahren.
Tausenden Aktivist*innen war es einen Tag zuvor gelungen, Zufahrtswege zum Gipfel zu blockieren und den Ablauf der Tagung zumindest punktuell – leider nicht umfassend – zu stören. Etwa 1.000 hatten an jenem Freitag im Hafen demonstriert, rund 2.000 zogen unter dem Motto »Jugend gegen G 20« zeitgleich durch die Innenstadt. Bis zu ihrer Zerschlagung durch die Polizei hatten sich am Donnerstag zur antikapitalistischen »Welcome to Hell«-Demonstration bereits 12.000 Menschen versammelt; hätten sie weiterziehen können, wäre die Menge sicher auf mehr als 20.000 angewachsen. So viele waren es jedenfalls am Mittwoch zuvor gewesen, die bei »Lieber tanz’ ich als G 20« gegen den Gipfel ravten, nachdem am Dienstag bereits Tausende gegen den Gipfel »gecornert« hatten. Rund 2.500 Teilnehmer*innen hatten am Mittwoch und Donnerstag den alternativen »Gipfel für globale Solidarität« besucht und mit Gästen aus aller Welt inhaltliche Kritik an der offiziellen Zusammenkunft diskutiert. Etwa 10.000 waren bereits am Sonntag, dem 2. Juli, dem Aufruf zur »G 20 Protestwelle« gefolgt. Die breite Ablehnung war in den Stadtteilen rund um die Messehallen deutlich sichtbar: Überall hingen Anti-G-20-Transparente aus den Fenstern, zahllose kleine Läden hatten ihre Schaufenster und Scheiben gegen den Gipfel dekoriert. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass der Senat keine Camps zulassen würde, solidarisierten sich etliche Hamburger mit den Protestierenden und boten ihnen Gästezimmer, Vorgärten und Lauben zur Übernachtung an.
Eine Woche lang waren Tausende Aktivist*innen in fieberhafter Anspannung im Dauereinsatz, kämpften politisch um Camps, bereiteten zahllose Aktionen vor, demonstrierten und blockierten. Es war eine ganz beglückende Erfahrung, wie wenig sie sich dabei von der allgegenwärtigen polizeilichen Repression einschüchtern ließen. Eine authentische soziale Bewegungsdynamik durchbrach alle langweiligen Routinen linker und parlamentarischer Politik. Es war in vielem eine ganz wunderbare Woche.
Der Spaltung getrotzt
In der gegenwärtigen Inszenierung einer globalen Polarisierung zwischen neoliberaler Mitte und Rechtspopulismus waren linke Alternativen in den letzten Monaten nur selten sichtbar. Mit dem Protest konnte dieser Unsinn ad absurdum geführt werden und ein weltweit wahrnehmbares Signal für die Existenz und Lebendigkeit einer antikapitalistischen Linken gegeben werden. Doch dieser Erfolg soll nach dem Willen der herrschenden Meinung, die noch immer die Meinung der Herrschenden ist, keine Anerkennung finden. In der Absicht, von der eigenen Verantwortung für die Eskalation in Hamburg abzulenken, versuchen SPD und CDU, unterstützt von etlichen Medien, nun mit aller Macht, die Krawalle im Schanzenviertel und in Altona gegen die zahlreichen Aktivitäten auszuspielen, und sprechen fast ausschließlich von der Randale anstatt über den Massenprotest. Demgegenüber gilt es, auf die eigenen Erfolge zu verweisen und die Hauptverantwortlichen für die Eskalation zu benennen: Senat und Polizei.
Im Vorfeld des G-20-Gipfels war immer wieder versucht worden, das Protestbündnis zu spalten – leider erfolgreich. Zunächst hatten sich namhafte Nichtregierungsorganisationen wie Campact, der Naturschutzbund und der WWF, außerdem der DGB aus Angst vor möglichen Krawallbildern verabschiedet und für Sonntag vor dem Gipfel zu einer eigenen Veranstaltung, der »Protestwelle«, mobilisiert. Dann haben auch die Grünen das Bündnis verlassen und parallel zur Großdemonstration mit der SPD zur Veranstaltung »Hamburg zeigt Haltung« aufgerufen. Die Abspaltungen waren eine politische Niederlage und durchaus gefährlich: Rechts von der Partei Die Linke und Attac brach fast das ganze Spektrum weg. Die gesamte Mobilisierung nach Hamburg wurde durch diese Manöver deutlich geschwächt.
Die »Protestwelle« brachte schließlich mit großem finanziellen Aufwand gerade einmal 10.000 Menschen auf die Straße. Bei »Hamburg zeigt Haltung« sollen es sogar nur knapp 6.000 gewesen sein – gegenüber der mehr als zwölffachen Menge auf der Großdemo, die völlig friedlich verlief und bei der sich alle Bündnispartner*innen an die Absprachen hielten. Es war zugleich eine sehr dynamische und kämpferische Demonstration. Massenhaft wurde auf ihr das Verbot der Symbole der kurdischen Freiheitsbewegung ignoriert. Fahnen der PKK wurden offen und sogar auf der Bühne der Abschlusskundgebung gezeigt, tausende von YPG-Fähnnchen prägten das Bild ganzer Blöcke. Gerade in Anbetracht der durch Spaltung, Verbote und Angstmacherei sehr erschwerten Bedingungen ist dem linken Lager in Deutschland ein beachtlicher Mobilisierungserfolg gelungen. Blamiert stehen hingegen die spaltenden Großorganisationen mit ihren Kleinprotesten da.
Es war immer klar gewesen: Wer eine solche Tagung ausrichtet, der holt sich die Gewalt in die Stadt. Die Entscheidung für Hamburg als Austragungsort des G-20-Gipfels war auch eine Entscheidung für die in der Hansestadt heftigsten Riots seit Jahren. Denn Vermummte, die Scheiben einschlagen und Autos anzünden, traten seit der WTO-Konferenz in Seattle 1999 bei fast allen großen Protesten gegen Zusammenkünfte solchen Formats in Erscheinung.
Das vorhersehbare Problem
Nach Hamburg kommen zu wollen, das hatten entsprechende Gruppierungen schon frühzeitig angekündigt: Bereits Monate vor dem Gipfel gab es eine wahrnehmbare »militante Mobilisierung«, vor allem von anarchistisch-insurrektionalistischen sowie neomaoistischen Zusammenhängen. Und absehbar war auch, dass es während des Gipfels in der Schanze »knallen« würde: Ziemlich regelmäßig kommt es dort im Anschluss an Demonstrationen und Stadtteilfeste zu Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Allerdings waren auch nach Polizeiangaben zum »schwarzen Block« auf die Demo am Donnerstag höchstens 2.000 statt der angekündigten 8.000 als »gewaltbereit« klassifizierten »Linksextremisten« gekommen. Die Chancen für einen relativ friedlichen Protest gegen den Gipfel standen also überraschend gut. Es waren der Senat mit einer de facto Verhängung des Ausnahmezustands und die Polizei selbst mit völlig überzogenen Repressionen, die die Stimmung tagelang immer weiter aufheizten und dadurch viel dazu beitrugen, dass es dann doch noch zu Ausschreitungen kam.
Schaufensterscheiben kleiner Geschäfte einzuschlagen oder Kleinwagen anzuzünden ist indes wahrlich kein antikapitalistischer Akt, sondern schlichtweg bescheuert, Feuer in Läden zu legen verantwortungslos. Der Riot war weitgehend sinnentleert und damit unpolitisch, Parteien und Medien fiel es auf diese Weise leicht, den gesamten Protest und überhaupt linke Politik zu diskreditieren.
Zum Glück standen die Ereignisse weder zeitlich noch geographisch und politisch in einem erkennbaren Zusammenhang mit den organisierten Protesten, so dass weder dem Bündnis, noch der Linkspartei, noch den organisierten Postautonomen der Interventionistischen Linken irgendeine Verantwortung für diese Ausschreitungen unterstellt werden konnte. Und daher gibt es auch keinen Grund, sich davon zu distanzieren: Man kann sich nur von Ereignissen, Maßnahmen, Gruppierungen etc. distanzieren, zu denen eine Nähe besteht. Die gab es ganz einfach nicht. Gleichwohl sind die Ausschreitungen zu verurteilen, weil sie kein zielführendes Mittel der politischen Auseinandersetzung sind, sondern dem Protest insgesamt erheblich geschadet haben. Die wieder und wieder gezeigten Aufnahmen von lodernden Feuern haben die Bilder des Massenprotests und des zivilen Ungehorsams völlig verdrängt, und noch im Nachgang des Gipfels wird die dringend notwendige Diskussion über die strukturelle Gewalt der G 20, über Polizeiübergriffe und Grundrechtsverletzungen von der Aufregung über »linke Gewalt« blockiert. Und dennoch sollte man die sozialen und politischen Ursachen in den Blick nehmen, die dazu führen, dass Menschen Steine auf Polizisten werfen oder Supermärkte plündern. Nun wird in völlig absehbarer und höchstens in der Heftigkeit unerwarteter Weise von SPD/CDU/AfD und vielen Medien versucht, der gesamten Linken die Schuld in die Schuhe zu schieben. Diesem Generalangriff gilt es standzuhalten – auch, indem auf die Mitverantwortung von Polizeiführung und Senat an der Eskalation hingewiesen wird.
Der Polizeistaat
Tatsächlich unvorbereitet traf etliche Gipfelgegner*innen das Ausmaß der Polizeirepression. Dabei hätte die Ernennung von Hartmut Dudde zum Einsatzleiter allen eine Warnung seien müssen: Wie wohl kein anderer steht der Zögling des ehemaligen Hamburger Rechtsaußen-Senators Ronald Schill für Rechtsbrüche im Amt, für die berüchtigte repressive »Hamburger Linie« und für ein brutales Vorgehen auch gegen friedliche Demonstrationen.
Bereits kurz vor der eigentlichen Gipfelwoche hatte die Polizei die Stimmung mit Hausdurchsuchungen bei Aktivist*innen, die in einem Taz-Interview Straftaten gerechtfertigt haben sollen, kräftig angeheizt. Es folgten die rüde durchgesetzten Campverbote. Die Polizei ging dabei nicht nur überaus brutal vor, sondern sie setzte sich auch eiskalt über Gerichtsentscheidungen hinweg. Viele konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Exekutive die Urteile der Judikative schlicht scheißegal waren. Und viele empfanden die Verbote als Verletzung des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit. Die Polizei griff mehrfach Journalist*innen an, ignorierte Gerichtsentscheidungen und schlug immer wieder und offensichtlich auch wahllos Menschen zusammen. Die ganze Woche über heizte die Repression die Stimmung an und trieb viele Leute in eine verzweifelte Wut. Der aus vielen Tausend Kehlen erklingende Ruf »Ganz Hamburg hasst die Polizei!« wurde zum wohl meistskandierten Slogan.
Manchen erschienen die Autonomen in dieser Situation sogar als Verteidiger des Rechtsstaates gegenüber der Polizei. So war in einem Kommentar des ARD-Magazins »Panorama« am 5. Juli zu lesen: »Nun also: wilde Protestcamps überall in der Stadt gegen eine Polizei, die nicht vor einem Rechtsbruch zurückschreckt. Der Frontverlauf also offenkundig: Gut gegen Böse – besser kann man die militante Szene nicht unterstützen. Aus selbstgerechten Krawalltouristen sind die Retter des Rechtsstaats geworden. Danke, Polizei Hamburg!«
Am 6. Juli ließ die Polizeiführung – sicherlich mit politischer Rückendeckung des Senates – die bis dahin völlig friedliche »Welcome to Hell«-Demonstration wegen ein paar vermummter Menschen noch vor dem Loslaufen so brutal zerschlagen, dass man froh sein konnte, dass nicht noch schlimmere Folgen eintraten. Die gewaltsame Auflösung einer angemeldeten, genehmigten und friedlichen Versammlung ist der eigentliche politische Skandal und erinnerte an das Vorgehen in autoritären Regimen. Die große Mehrheit der Protestierenden reagierte allerdings sehr besonnen. Dass sich so viele Menschen engagiert gegen die zeitweilige Errichtung eines Polizeistaates und gegen staatliche Anschläge auf Demokratie und Versammlungsfreiheit wehrten wie in der Hamburger Protestwoche, sollte jedem Demokraten und jeder Demokratin Grund zur Freude sein. Die von der Staatsgewalt ausgehenden Attacken auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit während der Gipfelwoche müssen aufgearbeitet werden. Auch, weil sie ganz erheblich zur Eskalation am Freitag beitrugen.
Angriff ist die beste Verteidigung
Bei dem Generalangriff auf die gesamte Linke tut sich insbesondere die SPD hervor – aus sehr durchsichtigen Motiven: Damit niemand mehr über die von ihr mitverantworteten Grundrechtsverletzungen und Polizeiübergriffe spricht, klagt sie in geradezu hysterischer Weise die Partei Die Linke als »parlamentarischen Arm des schwarzen Blocks« an. Die Rote Flora wird mit Räumung bedroht, dem Gängeviertel soll Fördergeld gestrichen werden, die radikale Linke von ihren gesellschaftlichen Bündnispartner*innen isoliert werden.
Das politisch-mediale Trommelfeuer wird noch eine Weile andauern, sich dann aber wieder legen, so wie die Rauchschwaden über der Schanze verzogen sind. Vielleicht tauchen Belege auf, dass auch dieses Mal wieder Zivilpolizist*innen und V-Leute des Verfassungsschutzes an den Krawallen beteiligt waren – so könnte die Debatte eine andere Richtung bekommen. All das ist schwer abzusehen.
Klar ist lediglich, dass in der jetzigen Situation nur Standfestigkeit und Offensive helfen. Unter umgekehrten Vorzeichen wäre auf die Taktik zurückzugreifen, die auch die SPD anwendet: Angriff ist die beste Verteidigung. Die Partei die Linke etwa hat sich überhaupt nichts vorzuwerfen. Von Anfang an war sie als einzige Partei gegen den G-20-Gipfel in Hamburg als Austragungsort. Alle Aktionen, die von dem Bündnis, an dem Die Linke beteiligt war, vorbereitet wurden, verliefen so, wie sie angekündigt waren: entweder völlig friedlich, oder es gab kleinere Regelverletzungen durch zivilen Ungehorsam.
Wir sollten auf die Verantwortlichen verweisen und Konsequenzen fordern. Die Partei Die Linke hat bereits den Rücktritt von Innensenator Andy Grote verlangt. Auch Olaf Scholz müsste seinen Hut nehmen: Wer angemeldete und friedliche Demonstrationen brutal zerschlagen lässt, wer das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit missachtet, wer die Sicherheit von Despot*innen über die Sicherheit der eigenen Bürger*innen stellt, sollte nicht länger im Amt bleiben. Es ist alles dafür zu tun, dass öffentlich über den Erfolg des Großprotestes gesprochen wird – und zugleich über das polizeistaatsartige Vorgehen gegen die Proteste. Laut von Spiegel Online veröffentlichtem »Wahltrend« vom 11. Juli findet ein Viertel der Befragten den Polizeieinsatz zu hart. In Hamburg dürften diese Zahlen noch weit höher liegen. Das Entsetzen über das Vorgehen der Polizei ist bis weit ins bürgerliche Milieu hinein groß. Die Partei Die Linke sollte jene Kraft sein, die diesem Entsetzen als sozialistische Bürgerrechtspartei politischen Ausdruck verleiht, die Demokratie und Grundrechte einfordert und deren Verletzung konsequent thematisiert.
Nötig ist eine linke Gegenerzählung gegen die Mainstreammärchen. Eine Erzählung der Erfolge, die der Reduktion eines Massenprotestes auf Ausschreitungen entgegengehalten wird. Eine Erzählung, die Polizeigewalt und Grundrechtsverletzung skandalisiert. Eine Erzählung vom Scheitern der Gegenseite. Gegenwärtig lässt sich damit nur eine gesellschaftliche Minderheit erreichen – zu stark ist das Sperrfeuer von Medien und SPD/CDU/AfD. Doch der Protest gegen den Hamburger G-20-Gipfel kann der Partei Die Linke auch für die Bundestagswahl reichlich Rückenwind geben – wenn sie angesichts der Hetze des politischen Gegners nicht einknickt.
Florian Wilde ist Mitglied der Partei Die Linke und war intensiv an der Vorbereitung des Protests gegen den G-20-Gipfel beteiligt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in der Jungen Welt, zu finden hier.