Heute, am 23. Mai, vor genau einem Jahr demonstrierten in Düsseldorf mehr als 10.000 Beschäftgte aus Kitas, Eltern und Kinder mitten in der Woche für mehr Personal, kleinere Gruppen. Frühkindliche Bildung sollte gestärkt und die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Aufgerufen hatte das Bündnis „Mehr Große für die Kleinen“. Die Revision des KiBiz stand an. Hätten die Forderungen Einzug ins KiBiz genommen, wäre vieles jetzt einfacher zu lösen. Doch wer nach hinten starrt, kommt schnell ins Straucheln. Darum gucken wir nach vorn.
Es ist kein Schreiben zur Verkündigung der Wahrheit, sondern entspringt dem drängenden Wunsch, eine Lösung für Kinder, Eltern UND Erzieher*innen in Zeiten von Corona zu finden. Er läd zur Debatte ein, aber auch zum Handeln. Er spricht die Kreativität an und den Mut zur Veränderung. Also lasst und klug, mutig, kreativ und füreinander da sein – gerade jetzt! Trotz alledem!
Thorsten Böning, Danke! Du weisst schon!
Frühkindliche Bildung braucht Raum, Personal und Gesundheitsschutz! Kitas in Zeiten der Coronapandemie – eine Ideenskizze
Die Coronapandemie stellt Eltern, Beschäftigte, Träger, Familien- und Bildungspolitiker und Kinder in NRW vor Fragen, die schnell und umfassend beantwortet werden müssen, wenn es nicht nachhaltig zu Verwerfungen im Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz, frühkindlicher Bildung und der Existenzsicherung von Eltern kommen soll. Diese Antworten innerhalb des bestehenden Kitasystems zu finden, scheint unmöglich: es gibt in den Kitas zu wenig Räume und zu wenig Personal, um alle Kinder so unterzubringen, dass die Infektionsketten nachvollziehbar bleiben, der Gesundheitsschutz der Beschäftigten gewahrt wird und Eltern im Spagat zwischen Erwerbstätigkeit und ihrer Zeit mit Kindern nicht zerrissen werden. Der Blick auf die pädagogische Landschaft und in andere „systemkritische“ Bereiche zeigt, dass kreative Lösungen möglich sind.
Am 19.6. 2020 wurde entschieden, das Betretungsverbot für Kitas und Tagespflegeeinrichtungen aufzuheben und die Einrichtungen wieder für alle Kinder zu öffnen. Ebenfalls aufgehoben wurde die Reduzierung der Gruppengrößen. Beibehalten wird die Aufhebung der Fachkraftquote in den Kitas.
Was sagen Wissenschaftler*innen?
Die Meinungen zur Öffnung von Kitas sind unter den Virolog*innen differenziert. Einigkeit besteht darin, dass es für viele Kinder förderlich ist, wenn sie schnell zurück in die Kitas kommen können. Einigkeit besteht auch darin, dass es bisher zu wenig Erkenntnisse über die (Aus)wirkungen von Sars – Cov – 2 bzw. Covid19 bei Kindern gibt.
Für uns steht im Mittelpunkt der Frage, ob und in welchem Umfang Kitas in Zeiten von Corona öffnen sollten, der Gesundheitsschutz von Kindern, Eltern und Beschäftigten. Solange es keine fundierten Erkenntnisse darüber gibt, in welchem Umfang Kinder Corona übertragen, halten wir es für geboten, mit kleinen Gruppen in dezentralen Räumen zu arbeiten. Wir haben unsere Ideenskizze auf der Grundlage der Vorgaben der Landesregierung zum Infektionsschutz und des RKI zum Infektionsschutz in Gesundheitsberufen unter Berücksichtigung pädagogischer Besonderheiten erarbeitet, die aktuell noch gelten, auch wenn sie zum 8.6. überwiegend aufgehoben werden.
Uns ist die Stellungnahme der Fachgesellschaften bekannt, in der die Autor*innen zu dem vorläufigen Ergebnis kommen, dass Kinder nicht maßgeblich an der Verbreitung von Covid19 beteiligt sind – soweit bisher bekannt. Dafür gibt es nach Aussage von Prof. Alexander Kekule und Prof. Christian Drosten keine fundierte Datengrundlage. Bei allen Influenzaviren und Coronaviren sind Kinder maßgeblich an der Verbreitung beteiligt. Im Rachenabstrich von Kindern findet sich die gleiche Sars-Cov-2 Viruslast, wie bei Erwachsenen.
Die Frage der Übertragbarkeit kann also nicht die Grundlage für die Entscheidung sein, ob und in welchem Umfang Kitas (und Schulen) wieder geöffnet werden. Die Öffnung von Kitas muss unter der Maßgabe erfolgen, dass die Folgeschäden für Kindern und Eltern durch die Schließungen immens sind und in keinem Verhältnis zu potentiellen Covid19 Erkrankungen zu stehen scheinen. Gleichzeitig muss damit ein Höchstmaß an Infektionsschutz einhergehen. Der Gründe dafür sind banal:
1. Wir wissen bisher schlicht zu wenig über die Rolle von Kindern im Infektionsgeschehen der Pandemie.
2. Der Gesundheitsschutz von Beschäftigten in Kitas darf nicht gegen den Gesundheitsschutz von Kindern gestellt werden.
3. Es gibt seit vielen Jahren erfolgreich durchgeführte Konzepte in der frühkindlichen Bildung, die mit kleinen Gruppen arbeiten.
4. Die Folgen der Coronapandemie werden Billiarden von Euros kosten. Die Kosten für die Einrichtung kleiner Gruppen in Kitas wird dabei vergleichsweise minimal sein, aber maximalen Schutz garantieren.
Wagen wir es! Diskutieren wir!
Ausgangslage
Die Landesregierung geht davon aus, dass rund 638.000 Kinder in NRW einen Betreuungsbedarf haben. Die bisherigen Gruppenstärken betragen bis zu 25 Kinder für den Gruppentyp III, 20 Kinder für Typ I und 10 Kinder in Typ II Gruppen. Diesen Gruppen sind jeweils grob zwei pädagogische Kräfte zugeordnet. Diese Gruppengrößen sollten aus Infektionsschutzgründen und zur Nachverfolgung der Infektionsketten solange nicht beibehalten werden, bis entweder eine breite Immunität in der Bevölkerung besteht oder ein Impfstoff einsetzbar ist.
Die Landesregierung hat aus diesen Gründen bereits in der Fachempfehlung Nr. 17 folgende Orientierungsgrößen für die Unterschiedlichen Gruppentypen erstellt:
Betreuungssettings für Kinder von 2 Jahre bis zur Einschulung:
10 – 12 Kinder
Betreuungssettings für U3-Kinder:
5 – 6 Kinder
Betreuungssettings für Kinder von 3 Jahre bis zur Einschulung:
12 – 15 Kinder
Das entspricht 50% – 75%der Gruppenstärke nach dem KiBiz NRW und bedeutet über den Daumen gepeilt, dass es (freie Stellen eingerechnet) doppelt so viel Personal- wie bisher und doppelt so viele Räume braucht.
Wie es gehen könnte – eine Ideenskizze
1. Räume
1.1. In der Natur
In NRW gibt es eine lange Tradition von Waldkindergärten. Diese Form der frühkindlichen Bildungseinrichtung hat kleine Räume, Bauwagen oder Container in Waldgebieten aufgebaut, in denen die Kinder sich aufwärmen können oder bei starkem Regen im Trockenen sind. Als Spielzeug dient alles, was die Natur zur Verfügung stellt.
Solche Räume könnten schnell und unkompliziert in vielen Städten und Gemeinden in ganz NRW geschaffen werden.
1.2. Leerstand in Städten und Gemeinden
Im Zuge des demographischen Wandels stehen in vielen Städten und Gemeinden ehemalige Grundschulen und Jugendzentren, Geschäftslokale und Büroräume leer. Vor allem mit der Nutzung von umgebauten Geschäftsräumen gibt es durch die Großtagespflegen in NRW gute und umfassende Erfahrungen. Bei einem Mangel an sanitären Anlagen müsste auf Toilettenwagen zurückgegriffen werden.
1.3. Ungenutzte Räume
Viele Räume könnten gerade nicht genutzt werden. Dazu gehören z.B. Gemeindehäuser, Büchereien, Musikschulen, Hochschulen und Universitäten etc. Hier könnten ebenfalls kleine Gruppen untergebracht werden.
Räume wären damit in den meisten Stadtteilen in NRW zum 8.6. provisorisch und über die Sommerferien nachhaltig umzubauen.
2. Personal
Die Landesregierung hat mit der Fachempfehlung 1 die Fachkraftquote in den Kitas aufgehoben. Das ist dauerhaft weder für die Beschäftigten noch für die Kinder haltbar. Gerade die Gruppen in Übergangsräumen werden einen höheren Personalbedarf haben.
Im Krankenhausbereich haben Landes- und Bundesregierung hier schnell und unbürokratisch agiert: In NRW wurde ein Freiwilligenregister auf den Weg gebracht, in das sich medizinische Fachkräfte eintragen können, um im Notfall in Krankenhäusern eingesetzt zu werden. Dieses medizinische Freiwilligenregister könnte man durch ein pädagogisches Freiwilligenregister ergänzen.
Es gibt eine sehr hohe Fluktuation im Erzieher*Innenbereich. Vielleicht gelingt es, während der Krise Personen für diese Zeit zurück zu gewinnen
Darüber hinaus wurden Studierende der Medizin aufgerufen, sich in den Kliniken zu melden. Auch hier könnte man Studierende der sozialen Arbeit und der Pädagogik aufrufen, ihre Praxissemester – tariflich bezahlt – nach den Sommerferien zu absolvieren. Das gleiche gilt für Erzieher*innen in der Zeit vor Ihrem Anerkennungsjahr. Zusätzlich könnte man darüber nachdenken, angehende Kinderpfleger*Innen in ihrem letzten Ausbildungsjahr, diese Zeit als praktischen Teil absolvieren zu lassen. Für diese Praktika könnten die Fachschulen Anforderungen an Ihre Schüler formulieren.
Beschäftigte, die zur Risikogruppen gehören, werden weiterhin von der Arbeit freigestellt und unterstützen die Kolleg*innen vor Ort durch pädagogische Konzepte und stellen Netzwerke zum Austausch zwischen den Gruppen her. Sie dokumentieren die Erfahrungen der Kolleg*innen und tragen damit dazu bei, dass die Erfahrungen nach der Pandemie fruchtbar gemacht werden können.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Personalentwicklung ist, dass zwingend, eine erfahrene Fachkraft pro Gruppe mit zwei der neu gewonnenen Zusatzkräfte arbeitet, um eine Überlastung der Beschäftigten und die Aufrechterhaltung einer soliden frühkindlichen Bildung zu garantieren. Die Freiwilligen aus Hochschulen, Universitäten den pädagogischen Ausbildungsgängen werden zwingend mindestens nach dem Tarif des Öffentlichen Dienstes S3 (bzw. nach Ausbildungsstand nach S8) bezahlt.
Damit Mitarbeiter*innen sich auf die Arbeit mit den Kindern konzentrieren können, müssen sie von anderen Aufgaben entlastet werden. Dazu gehört auch der Wegfall von bürokratischen Aufgaben und Auflagen. Es stellt sich auch die Frage ob Bildungsdokumentationen während der Krise tatsächlich sein müssen. Ebenfalls hilfreich ist es in unseren Augen die Anzahl der Personen, die eine Kita betreten gering zu halten. Dazu gehören derzeit leider ebenso die Eltern wie alle weiteren Personen, die nicht zum Betrieb der Kita notwendig sind.
Ähnliche Konzepte wären auch auf die Offenen Ganztagsschulen übertragbar.
Thorsten Böning und Katharina Schwabedissen, Mai 2020