von Peter Schäfer mit seiner freundlichen Genehmigung:
zuerst erschienen unter https://www.heise.de/tp/features/Israelische-Annexionsplaene-4797337.html
Annektiert Israel ab dem 1. Juli Teile des Westjordanlands? Selbst in Israel wird darüber spekuliert, ob Ministerpräsident Netanjahu bis zu 30 Prozent des palästinensischen Territoriums zu israelischem Staatsgebiet machen wird oder nicht
Völkerrechtlich wäre die Annexion zwar illegal, weshalb in einigen europäischen Hauptstädten bereits an schriftlichen Verurteilungen gefeilt wird. Enthielten diese Substanz, wäre das ein Novum. Der Zeitpunkt könnte für Israel jedenfalls nicht günstiger sein: Die Trump-Administration schlug in Form des „Jahrhundert-Deals“ bereits selbst ähnliches vor. Kriege in der Region und die Corona-Pandemie bündeln internationale Aufmerksamkeit. Und die israelischen Beziehungen zu einigen Staaten der Arabischen Halbinsel erleben angesichts des gemeinsamen Feinds Iran eine Blüte.
International werden die Annexionspläne mit der Übernahme der Krim-Halbinsel durch Russland 2014 verglichen, zumindest hinsichtlich der Verletzung internationaler Normen. Israel muss jedoch weder Soldaten in Marsch setzen, die sind nämlich schon vor Ort. Und die Infrastruktur zur Isolierung der palästinensischen Bevölkerung steht auch bereits.
Die Annexionspläne fokussieren auf den Jordangraben sowie die größeren israelischen Siedlungsblöcke im Westjordanland. Wie auf der Karte unschwer zu erkennen, sind die Gebiete um Ariel im Norden, Maale Adumim östlich von Ost-Jerusalem und Gush Etzion bei Betlehem bereits durch Mauern und andere Sperranlagen aus dem Westjordanland herausgetrennt und seit Jahren nur von Israel aus frei zugänglich. Die Landnahme ist somit längst abgeschlossen. Ab dem 1. Juli könnte sich lediglich die Bezeichnung dafür ändern.
Während also in den europäischen Hauptstädten seit fast 30 Jahren am Mantra der Zwei-Staatenlösung krampfhaft festgehalten wird, wurde gleichzeitig nichts gegen die Zerstückelung des Gebiets, auf dem der palästinensische Staat entstehen sollte, unternommen. In Israel selbst jedoch war die Debatte nicht ausschließlich auf die Lösung im Rahmen der Osloer Friedensverträge ab 1993 fixiert.
Einstaaten-Lösung
Spätestens seit 2009 – seitdem ist der derzeitige Ministerpräsident Netanjahu auch schon im Amt – diskutieren Vertreter der rechten Likud-Partei und angeschlossener Think Tanks öffentlich eine Einstaaten-Lösung, also ein Staat für alle Bewohner des Gebiets zwischen Mittelmeer und dem Fluss Jordan. Oder doch nicht für alle? Die Idee ähnelt nämlich nur dem Namen nach dem linken Pendant. Während linke Israelis und Palästinenser von einem gemeinsamen Staat und gleichen Rechten für alle sprechen, wie beispielsweise die Kampagne für den „einen demokratischen Staat“, diskutiert die israelische Rechte anderes und gibt einen Vorgeschmack auf die Situation nach einer Annexion.
Vordenker des Likud, wie der ehemalige Verteidigungs- und Außenminister Moshe Arens, bezogen sich bereits vor zehn Jahren von rechter Seite aus und öffentlich auf einen „bi-nationalen Staat“, allerdings unter jüdischer Souveränität. Sie denken zwar auch über israelische Bürgerrechte für Palästinenser in einem solchen Staat nach, sollten diese die jüdische Vorherrschaft akzeptierten. Uneinigkeit besteht aber darüber, wann und wie diese Rechte zuerkannt werden könnten und was vor allem das Schicksal jener wäre, die sich nicht freiwillig unterordnen.
Das Jordantal
Sollte ab dem 1. Juli Territorium annektiert werden, wäre zunächst nur ein kleiner Teil der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland betroffen, abgesehen von der generellen Wirkung von Landverlust auf Ernährungssouveränität und Wirtschaft. Der Bau der Sperranlagen zielte darauf ab, so viel Land wie möglich, aber nur so viele Menschen wie nötig auf die israelische Seite zu nehmen.
Die volle israelische Kontrolle über das Jordantal wurde bereits ab 1970 nach dem Allon-Plan anvisiert und dann schrittweise umgesetzt. Heute sind über 90 Prozent des Jordantals für Palästinenser nicht mehr zugänglich, landwirtschaftliche Flächen wurden beschlagnahmt. Allein in der Ortschaft Jiftlik wurde die schulische Infrastruktur zwischen 2006-2010 sieben Mal durch israelisches Militär zerstört.
Die schwindenden Existenzmöglichkeiten führten zur Abwanderung der Bevölkerung, andere wurden direkt vom Militär vertrieben. Bereits dies, so die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem, konstituiert ein Kriegsverbrechen. Von 250.000 Bewohnern des Jordangrabens zu Beginn der israelischen Besatzung 1967 leben dort nur noch ungefähr 70.000, die meisten in Jericho.
Die Siedlungsblöcke
Sollte Israel zusätzlich zum Jordantal noch das Gebiet der Kolonie Maale Adumim annektieren, wäre die territoriale Kontinuität zwischen dem Norden und Süden des Westjordanlands gebrochen. Palästinenser auf dem Weg von Ramallah nach Betlehem müssten dann israelisches Staatsgebiet passieren; eine Passage, die ähnlich verunmöglicht werden könnte wie diejenige zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Schon heute bedeutet palästinensische Mobilität Umgang mit Straßenzerstörung, Straßensperrung, langen Umwegen und Willkür an Militärkontrollen.
Um den Siedlungsblock Gush Etzion und um Ariel sieht es ähnlich aus. Deren Bewohner fahren auf gut ausgebauten und abgeriegelten Straßen, während die palästinensischen Nachbarn hinter hohen Mauern unsichtbar gemacht wurden.
Bereits ab Mitte der 1990er Jahre baute Israel ein getrenntes Straßennetz für seine Kolonien im Westjordanland. Viele Verbindungen zwischen palästinensischen Ortschaften wurden dabei schlicht zerstört, Ortszufahrten zugeschüttet. In der Folge wurde für die palästinensische Bevölkerung, wo möglich, ein davon separiertes Straßensystem ausgebaut, das jedoch vom israelischen Militär immer wieder gesperrt wird. Dieses separate Straßensystem wurde auch von Deutschland finanziert, um „das Leben der Menschen zu verbessern“. Ihr Bau bedeutet jedoch auch die Akzeptanz israelischer Beschränkungen.
Die internationalen Geberorganisationen richten sich in ihrer Zusammenarbeit in Palästina bis heute an israelischen Interessen aus. So werden Projekte für die palästinensische Bevölkerung in den C-Gebieten des Westjordanlands nicht mehr vorangetrieben. Und die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise zog es vor, dem israelischen Druck zur Einstellung der Brunnenbohrungen im wasserreichen Westjordanland nachzugeben, anstatt sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen.
Erzwungene palästinensische Spaltung
Was sind die Optionen der Palästinenser bei einer Annexion? Wie hat die Autonomiebehörde (PA) in Ramallah auf die Ankündigungen reagiert? Am 19. Mai erklärte Präsident Abbas nicht zum ersten Mal die Verträge mit Israel für nichtig, einschließlich der Sicherheitskooperation. Praktisch umgesetzt wurde die Ankündigung nicht und das wäre auch kaum möglich, denn ein Plan B existiert nicht. Entsprechende politische Debatten wurden von der PA in der Vergangenheit mit Polizeigewalt unterbunden. International wird Abbas undemokratisches Verhalten vorgeworfen. Beispielhaft beklagt Die Zeit, Abbas habe „seit 2005“ keine Wahlen mehr „im Westjordanland“ abgehalten.
Mit Genehmigung Israels schritt die Bevölkerung von Gazastreifen und Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, im Januar 2006 zur Parlamentswahl. Die Hamas-Bewegung gewann und bildete die Regierung, woraufhin die internationalen Partner der PA ihre Kooperationen umgehend einfroren. Die Europäische Kommission bildete in Rekordzeit einen Mechanismus zur Umgehung der neugewählten Regierung. Israel verhaftete Minister und Abgeordnete der Hamas. Seither sind die palästinensischen Erwartungen an freie Wahlen gedämpft.
Auch eine Einigung zwischen der Fatah, also der Bewegung von Präsident Abbas, und der Hamas, die seit der Parlamentswahl im Gazastreifen regiert, ist unter den Bedingungen Israels und der internationalen Geber nicht möglich. Das ehemalige Nahost-Quartett legte 2006 fest, dass die Hamas gewaltfrei werden sowie Israel und die Verträge mit Israel anerkennen müsse, um als Partnerin akzeptiert zu werden.
Aus der Sicht der Hamas und anderer wäre jedoch die Befolgung dieser Bedingungen kein guter Verhandlungseinstieg und käme einer Selbstauflösung sowie dem Verbot jeglicher Opposition zu den Verträgen von Oslo gleich. Dies bei gleichzeitiger Einsicht selbst innerhalb der Fatah, dass eben diese Verträge nicht einmal mit 20 Jahren Verspätung zum intendierten Ergebnis, nämlich der Staatsgründung, führten. Honaida Ghanim, profunde Kennerin der politischen Debatten in Israel und in Palästina, sieht deshalb eine Verschiebung palästinensischer Kämpfe als Resultat der israelischen Landnahme, weg vom Ziel einer Staatlichkeit, „zurück zu einer anti-kolonialen Ausrichtung“.
Nun rächt sich die erzwungene Alternativlosigkeit zur Zwei-Staatenlösung in Palästina und den wichtigsten Geberländern. In Europa, speziell in Deutschland, werden Alternativdebatten mit der Anschuldigung, dadurch die Existenz Israels zu gefährden, verunglimpft. Tatsächlich immer weiter verunmöglicht wird jedoch die staatliche Existenz Palästinas. Israel kann derzeit jedenfalls nur gewinnen: durch eine Annexion mehr Territorium, durch Verzicht auf eine Annexion den Ruf als friedlicher Akteur, selbst bei ungebremster Besatzung und Landnahme.
Sollte Israel die geplante Annexion umsetzen, fände eine Aufkündigung der Verträge mit Israel durch die PA übrigens große Mehrheiten (71 Prozent) in der palästinensischen Bevölkerung.
(Peter Schäfer)