Klassenpolitik in der Krise

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von Jürgen Aust

Die Diagnose lässt keinen Zweifel aufkommen:  nicht nur die deutsche, sondern die Wirtschaft weltweit erlebt aktuell den größten Einbruch in der Nachkriegsgeschichte. War bereits in der sog. Finanzmarktkrise 2008/09 die Rede von einer historischen Krise, stellt die aktuelle „Corona-Krise“ alles bisher Dagewesene in den Schatten. Vergleiche mit der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise werden laut, die damals allein in Deutschland zu mehr als sechs Millionen Arbeitslosen führte und der Anfang für den Aufstieg des Hitlerfaschismus war. Auch wenn wir in Deutschland davon weit entfernt sind, ist die aktuelle Krise für die herrschende Klasse ein willkommener Anlass zur weiteren autoritären Formierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

 

Die Wirtschaftskrise als Ausdruck eines Systemversagens

 

Die steigende Massenarbeitslosigkeit und das Ausmaß von Kurzarbeit in einer bisher noch nie erreichten Höhe beweisen einmal mehr, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem und die von ihm abhängigen politischen Akteure kein Interesse daran haben, die abhängig Beschäftigten sowie die erwerbslosen Menschen vor einem finanziellen Absturz zu schützen. So enthielt das bereits am 08. März 2020 von der Bundesregierung beschlossene Rettungsprogramm in einer nahezu astronomischen Höhe von 750 Mrd. €  überwiegend Finanzhilfen für die deutsche Großindustrie in Höhe von 600 Mrd. € („Wirtschaftsstabilisierungsfonds“), während die mittlere Bourgeoisie mit 50 Mrd.€ abgespeist wurde (Kleinbetriebe sowie Solo-Selbständige) und die Arbeiterklasse einmal mehr völlig leer ausging.

Die Arbeiterklasse trägt mit ca. 4 Mio. tatsächlich erwerbslosen Menschen (offizielle Arbeitslosenzahl plus sog. Unterbeschäftigung) und aktuell ca. 5,5 Mio. Kurzarbeiter*innen (Stand Mitte August 2020) einmal mehr die Hauptlast der aktuellen Krise. Eine vergleichbar hohe Arbeitslosigkeit war Anfang 2000 für die SPD der wesentliche Grund, die vorhandenen Sozialsysteme radikal zu verändern, womit u.a. eine drastische Rentenkürzung, die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und die Einführung des Hartz IV-Systems verbunden waren. Mit Unterstützung der neoliberalen Medien von BILD bis zur Tagesschau gelingt es jedoch Monat für Monat, der Öffentlichkeit deutlich manipulierte Arbeitslosenzahlen zu präsentieren, die nach offizieller Lesart dann „nur“ noch 2,9 Mio. (2.910.008 Mio. im Juli 2020) betragen. Berücksichtigt man aber  zu den  4 Mio. Arbeitslosen noch zusätzlich die sog. „verdeckte“ Arbeitslosigkeit, also diejenigen, die zwar erwerbslos sind, aber sich bei der Arbeitsagentur aus den unterschiedlichsten Gründen nicht als arbeitslos gemeldet haben, in Höhe von ca. 1 Mio. Personen, dann muss realistischerweise von einer Größenordnung von ca. 5 Mio. erwerbslosen Menschen in Deutschland aktuell ausgegangen werden.

Auch wenn die „Kurzarbeit“ eine größere Entlassungswelle verhindert hat, ist deren Durchführung für die davon Betroffenen mit massiven Einkommensverlusten verbunden. Die in den ersten drei Monaten gezahlten 60% des letzten Nettoeinkommens bedeuten für die Masse der Beschäftigten massive Einkommensverluste, was an folgendem Beispiel deutlich wird: wer als Alleinstehende/r ca. 2.400 brutto verdient, hat sogar noch einen aufstockenden Anspruch auf Hartz IV-Leistungen. Der herrschenden Propaganda gelingt es jedoch, die Kurzarbeit als besondere Segnung des deutschen Sozialstaats darzustellen, obwohl in zahlreichen EU-Ländern ein deutlich höheres Kurzarbeitergeld gezahlt wird, so z.B. in Dänemark oder Norwegen bis zu 100% des Lohnausfalls und auch Frankreich und Italien liegen mit einem Kurzarbeitergeld von 80% noch erheblich höher als Deutschland. Aber es ist vor allem Geld, was zuvor von den Löhnen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung einbehalten wird. Die finanzielle (Teil-) Absicherung bezahlen die Beschäftigten demnach aus eigenen Mitteln, was gleichzeitig mit einer gigantischen Entlastung der Arbeitgeberseite verbunden ist, denn diese sind über einen längeren Zeitraum (es sei denn, sie zahlen aufstockende Leistungen zum Kurzarbeitergeld) von der Lohnzahlung befreit.

Für die deutschen Großkonzerne ist die Corona-Krise ein willkommener Anlass, groß dimensionierte Entlassungen anzukündigen und diese als alternativlos erscheinen zu lassen. Insbesondere die deutsche Autoindustrie ist fest entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich von „überflüssigen“ Kosten zu befreien: Daimler will sich von ca. 15.000 Beschäftigten trennen, der Zulieferer ZF stellt allein 10.000 Stellen auf den Prüfstand. Aber auch die deutsche Bahn will sich von 10.000 Beschäftigten verabschieden, bei der Lufthansa sollen es weltweit 22.000 Stellen sein, wovon sogar ca. 1.000 Führungsstellen betroffen sind. Dieser beispielhafte Stellenabbau wird die Arbeitslosigkeit schätzungsweise um ca. 150.000 bis 200.000 ausweiten und die befürchtete Insolvenzwelle ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Dass es sich um ein Systemversagen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems handelt, wird allein dadurch mehr als deutlich, dass der gesamte Öffentliche Dienst von Arbeitsplatzabbau und Lohn- bzw. Gehaltskürzungen völlig verschont geblieben ist. Sämtliche Bedienstete brauchten sich um die Absicherung ihrer Existenz keinerlei Sorgen machen. Allein dieser Bezug auf den Öffentlichen Dienst ist doch ein durchschlagender Beleg dafür, dass die Gewerkschaften und die Linke insgesamt sich in einem viel stärkerem Ausmaß als bisher für die Vergesellschaftung zentraler Wirtschaftsbereiche und der öffentlichen Daseinsvorsorge einsetzen muss, da in jedem privatwirtschaftlich verfassten Wirtschaftssystem ständig Millionen von Beschäftigten sich gewissermaßen auf einem Schleudersitz befinden und sie nicht wissen, ob sie im nächsten Jahr noch die Raten des neuen Autos oder aber die Kosten für den nächsten Familienurlaub aufbringen können. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen auch bei zahlreichen Kommentatoren der Krise durchgesetzt. So stellt der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge zurecht fest: „Wenn das Infektions-, Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko in und nach der Covid-19-Pandemie nicht mehr zentral von den jeweiligen Ressourcen abhängen soll, muss das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundlegend verändert werden.“

Die Herrschenden setzen auf eine Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltung, doch der notwendige gewerkschaftliche und linke Widerstand bleibt aus

 

Der Widerspruch des Narrativs der herrschenden Klasse könnte nicht absurder sein:  während das politische und mediale Trommelfeuer unablässig suggeriert, das „wir“ nur gemeinsam durch die Krise kommen und dieser Etikettenschwindel sogar auch von Teilen der Linkspartei mitgetragen wird, zeigen der monströse Personalabbau oder der Umstand, dass Millionen von abhängig Beschäftigten und erwerbslosen ohne jegliche finanzielle Unterstützung bleiben, dass die Zusammenhaltsparolen nichts anderes sind als ein groß angelegtes Propagandamanöver, mit dem die Betroffenen ruhig gestellt und vom Widerstand abgehalten werden sollen.

Die deutschen Gewerkschaften spielen in dieser monumentalen Krise einmal mehr eine sehr widersprüchliche Rolle. Sämtliche Gewerkschaftsspitzen waren nach Verabschiedung des ersten Konjunkturpakets in Höhe von 750 Mrd. € bemüht, der Bundesregierung Handlungsfähigkeit und Weitblick zu attestieren. So erklärte der verdi-Vorsitzende, Frank Werneke, dass die „jetzt beschlossenen Maßnahmen insgesamt wichtig für die Konjunktur (sind), das ist positiv.“ Und das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsinstitut IMK attestierte mit der nahezu staatstragenden Feststellung „Die entschlossene Reaktion von Bundesregierung, EU und EZB hat Schlimmeres verhindert.“ Dass das gesamte Paket von einem deutlichen Klassencharakter geprägt war, davon leider kein Wort. Aus gewerkschaftlicher Sicht war man bemüht, im klassischen sozialpartnerschaftlichen Tenor Solidarität und Zusammenhalt zu beschwören, obwohl die Großkonzerne zum selben Zeitpunkt bereits ihre groß dimensionierten Massenentlassungen in der Schublade hatten. Diese hatten auch nicht in erster Linie etwas mit der Corona-Krise zu tun, sondern waren bereits im Herbst 2019 angesichts einer sich anbahnenden Rezession angekündigt, so u.a. 6.000 bei Thyssen-Krupp, 9.500 bei Audi, 10.000 bei Daimler-Benz, 10.000 bei VW oder 7.000 bei Schaeffler-Continental und diese Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen. In zahlreichen Fällen hatten bereits 2019 sog. Sozialplan-Verhandlungen stattgefunden und die in diesen Fällen beteiligte IG Metall verkündete anschließend, man habe eine Arbeitsplatzsicherheitsgarantie (z.B. bei Audi) vereinbaren können, obwohl jeweils der Vernichtung von tausenden von Arbeitsplätzen zugestimmt wurde. Als Beruhigungspille wurde den betroffenen Belegschaften verkauft, dass man aber doch betriebsbedingte Kündigungen dadurch abwenden konnte. Dass das Hauptinteresse des Kapitals, die Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen, bei diesem Deal weitgehend aufging, scheint für die Gewerkschaften bzw. ihre Verhandlungsführungen dann kein Thema mehr zu sein, denn man hat ja angeblich das Schlimmste verhindern können. Der massenhafte finanzielle Absturz und die Aussicht, demnächst im Hartz IV-System zu landen, ist dann eher ein Kollateralschaden, für den man aber dann auch nicht mehr verantwortlich ist.

Wie könnte denn eine kämpferische Strategie mit mobilisierbaren Forderungen aussehen?

 

Wenn die nach der Ankündigung eines Konzerns, zum Personalabbau „leider gezwungen“ zu sein, zunächst lautstark verkündete gewerkschaftliche Parole „Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz“ tatsächlich Sinn machen sollte, dann müsste diese aber auch damit verbunden sein, diese Kampfansage ernst zu nehmen und nicht mitten im Kampf die Waffen zu strecken. Es müsste doch zunächst einmal der Belegschaft vermittelt werden, dass der aktuellen Entlassungsabsicht des Konzerns bereits zahlreiche Entlassungswellen in den letzten Jahren vorausgingen und dass dies auch nicht der letzte Personalabbau sein wird, weil das Hauptinteresse des Kapitals, den „Ertrag“ des Unternehmens beständig auf Kosten der Arbeitsplätze, der Löhne und der Arbeitsbedingungen zu steigern, gewissermaßen zur DNA des kapitalistischen Wirtschaftssystems gehört. Wenn diese Erkenntnis den Belegschaften nicht immer wieder vermittelt wird, dann  passiert genau das, was bei jedem Arbeitskampf eine zentrale Legitimationsgrundlage für die Konzernführung spielt, nämlich dass der Abbau von tausenden von Arbeitsplätzen zum Erhalt des Standorts angeblich alternativlos sei und die Sicherung von einem Teil der vorhandenen Stellen um den Preis der Vernichtung einer großen Zahl von Arbeitsplätzen erkauft wird.

Es hätte sich deshalb zu Beginn der Corona-Krise und der erwartbaren Vernichtung von Arbeitsplätzen in großem Umfang für die Einzelgewerkschaften und insbesondere auch den DGB nahezu aufgedrängt, ohne Wenn und Aber jeglicher Entlassung den Kampf anzusagen, was angesichts des gigantischen Konjunkturpakets mit einem entsprechenden größeren Einzelposten doch ohne weiteres in Form eines zunächst auf sechs Monate bemessenen Moratoriums möglich gewesen wäre. Auch wenn eine linke Position sich grundsätzlich einer staatlichen Subventionierung des Privatkapitals verweigern sollte, wäre eine kurzfristige Übernahme der Lohnkosten für einen begrenzten Zeitraum aber die einzige Lösung zur Rettung von hunderttausenden von Arbeitsplätzen gewesen. Auch das „Kurzarbeitergeld“ hätte grundsätzlich auf 100% des bisherigen durchschnittlichen Nettolohnes aufgestockt werden müssen, um die  angesichts des unzureichenden Kurzarbeitergeldes eintretenden massiven Einkommensverluste zu verhindern. Und es hätte sich außerdem insbesondere   aufgedrängt, eine breite Kampagne für die ca. 7 Mio. (!) Sozialleistungsempfänger*innen zu starten, um die Bundesregierung zu zwingen, diesen mit einem deutlich höheren Regelsatz von z.B. 600 € dabei zu helfen, ihre tägliche Verelendungssituation etwas zu lindern. Doch alles das ist leider nicht passiert, weil die wohlfeilen, aber blutarmen Parolen von „Solidarität und Zusammenhalt“ alles andere im Interesse des „Großen und Ganzen“ in den Hintergrund gerückt haben.

Jürgen Aust ist im Landesvorstand DIE LINKE.NRW zuständig für Arbeitsmarktpolitik (Stand 26.08.2020) und Mitglied im Bundessprecher*innen-Rat der AKL