LINKS ODER SAHRA WAGENKNECHT – DAS IST HIER DIE FRAGE

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Wir dokumentieren hier eine Facebook-Diskussion von Florian Wilde und Thies Gleiss.

Heute – 14. April 2021 – ist der offizielle Erscheinungstag des neuen Buches von Sahra Wagenknecht, prominente Ikone des national-sozialdemokratischen Flügels der LINKEN und seiner zahlreichen Unterstützer*innen außerhalb der Partei.

Es hat den Titel „Die Selbstgerechten“ und kritisiert alle möglichen und unmöglichen Teile der „Linken“ – von Tony Blair, Gerhard Schröder, die heutigen SPD und Demokratische Partei der USA, die LINKE, die sozialen Bewegungen um Klimagerechtigkeit, Black Lives Matter und gegen den Rassismus, zur Flüchtlingssolidarität wie „Seebrücke“ und viele andere mehr – als „linksliberal“ oder „Livestyle“-Linke.

Sahra Wagenknecht kritisiert diese angebliche linke Verirrung als „Identitätspolitik“, die den echten Konflikt in der Gesellschaft um soziale Ungerechtigkeit überlagert hätte. Sie fährt damit per Federstrich über wichtige politische Mobilisierungen von Frauen, Migranten, Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe, Proteste für mehr Klimagerechtigkeit und für weltweite Solidarität hinweg, ebenso wie über zahlreiche theoretische Beiträge zur strukturellen Verankerung von Rassismus, Frauenunterdrückung und Minderheitenausgrenzung, die auch und besonders die kapitalistische Klassengesellschaft begleiten. Zur Kritik dieser Identitätspolitik – wozu es in vielerlei Aspekten durchaus Anlass gibt – begnügt sich Sahra Wagenknecht mit billigen Stammtischzoten.

Auch in der Analyse der politischen Verhältnisse in Deutschland und mit ihrer Kritik an den LINKEN dockt Sahra Wagenknecht in atemberaubender Weise an bekannten rechten Stereotypen an: Die Aufbruchsbewegung von 1968 hätte den Durchmarsch der Identitätspolitik begründet und die SPD und die Grünen gekapert. Das klingt nach „links-grün versifften 68er-Sumpf“ – den die AfD und die immer wieder ausgerufene „konservative Revolution“ bekämpfen will.

Früher sei alles besser gewesen, da galt noch Leistungsgerechtigkeit und „Maß und Mitte“ als Werte „linker Politik“. Das klingt nach FDP und CDU mit ihren Parolen von „Maß und Mitte“ und „Leistung muss sich wieder lohnen“.

Linke Politik sei nur im nationalstaatlichen Rahmen vermittel- und umsetzbar. Das klingt nicht nur nach strengerer Migration-Regulierung, Abschiebungen und Festung Europa.

In der LINKEN tobt eine heftige Debatte über diese Positionen von Sahra Wagenknecht. Nicht zuletzt deshalb, weil sie wieder als Kandidatin für die Bundestagswahl gewählt wurde.

Um einen kleinen Einstieg in diese Debatte zu geben, wird hier eine Facebook-Diskussion zwischen Florian Wilde, Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung und aktiver „Bewegungslinker“ in der LINKEN-Hamburg, und Thies Gleiss, Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und einer der Sprecher der Antikapitalistischen Linken in der LINKEN, dokumentiert.

Es ist eine Gegenüberstellung von 11 Thesen und 11 Antworten.

Florian Wilde

Für weniger Aufgeregtheit in der linken Wagenknecht-Debatte

Ich finde die Reaktion auf Sahra Wagenknechts Buch insbesondere aus meiner Strömung, der Bewegungslinken, zu krass, zu moralisch empört und tendenziell destruktiv, und möchte mit diesem Beitrag für eine weniger aufgeregte Auseinandersetzung werben.

Thies Gleiss

Also lieber Flo, dann kommen hier mal ein paar Gegenargumente zu deinen Hamburger Pflastersteinen:

Florian Wilde

1.

Was ist eigentlich passiert? Ein Jahr nach ihrem Rückzug als Fraktionsvorsitzende, in dem sie angenehm still war, hat SW nun ihre Auffassungen in gesammelter Form als Buch vorgelegt. Das ist eine grundsätzlich völlig legitime Form einer Intervention in die Parteidebatte. Wäre ich prominent und täte ich den Kurs meiner Partei ablehnen, würde ich genauso vorgehen: ein Buch schreiben und um meine Auffassungen werben.

Thies Gleiss

Zu 1.

Wenn so einer wie du oder ich sich in die PARTEI-Debatte einschalten will, dann ist der Zeitpunkt der Parteitag und die Wahl des Parteivorstandes. Zu diesem Zeitpunkt kam von SW gar nichts, sie hat schweigend hingenommen, dass ihre Unterstützer*innen bei den Vorstandswahlen schlecht abschnitten. Wenn ihr das ein Anliegen, sie ihre Prominenz zur Unterstützung ihres Fußvolkes hätte ausnutzen wollen, dann wäre wenigstens ein kleines Thesenpapier sinnvoll gewesen.

Nein, SW sucht ausdrücklich nicht die Auseinandersetzung mit der Partei. Noch nicht einmal mit der Parlamentsfraktion, wie sie es früher ein wenig gemacht hat. Sie operiert komplett auf eigenem Ticket und der Rest der Partei ist ihr nicht nur egal, sondern sie trickst ihn aus – wie die missglückte Episode zeigt, dass ihr Buch vorsichtshalber doch erst nach ihrer Wahl zur Kandidatin herauskommen soll.

Florian Wilde

2.

Während SW in der Vergangenheit ihre Positionen aus der Funktion einer Fraktionsvorsitzenden heraus vortrug und damit die Gesamtpartei ungefragt in Haftung nahm, ist sie nun einfach nur eine, wenn auch besonders prominente, Abgeordnete, die ihre Partei kritisiert und dabei ganz offensichtlich nicht für die Gesamtpartei spricht. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu ihrem Auftreten in den letzten Jahren.

Thies Gleiss

Zu 2.

Als „einfache Abgeordnete“ nimmt SW die Partei genauso in Haftung wie als Fraktionsvorsitzende. Der Unterschied ist bei der Größe der Meinungsverschiedenheit von SW zur LINKEN völlig unbedeutend. Statt als gewählte Repräsentantin der Partei, zu der sie nur durch hartes Engagement der Parteimitglieder gekommen ist, die Partei auch tatsächlich zu vertreten, geht sie offen in den Kampfmodus über, um die Partei insgesamt anzugreifen.

Florian Wilde

3.

Ihr Buch ist ein polemischer Angriff auf die LINKE und auf linke Bewegungen mittels eines in dieser Undifferenziertheit geradezu dummen Vorwurfs des Linksliberalismus. Dabei benutzt sie teils beleidigende und diffamierende Formulierungen gegenüber Teilen der Linken. Die Beleidigten haben jedes Recht, sich zur Wehr zu setzen, und SWs Vorwürfe gehören politisch zurückgewiesen. Aber dabei muss man aber auch nicht völlig über die Stränge schlagen, denn

Thies Gleiss

Zu 3.

Niemand in der Kritik an SW schlägt über die Stränge. Die Rezension von Edith B.S. war freundlich und solidarisch. Ich selber habe mich völlig zurückgehalten und nur sehr lange Zitate von SW gebracht, bei denen der Vorwurf, sie seien aus dem Zusammenhang gerissen, nun wahrlich infam ist.

Was die Sache etwas eruptiv gemacht hat, war allein der Zeitdruck. SW wollte ohne Kenntnis dieses frontalen Angriffs auf die LINKE, wie du es zu Recht nennst, bei den Parteimitgliedern, der quasi schon in den Paletten für die Buchläden lag, ihre Wahl zur Spitzenkandidatin in NRW durchziehen. Es ist doch mehr als verständlich, dass in dem Moment, wo dieser Angriff erkennbar war, schnell reagiert werden musste.

Florian Wilde

4.

In dem Buch scheint doch gar nichts grundsätzlich Neues zu stehen, sondern es fasst die von ihr bereits seit ca. 2015 vertretenen Positionen zusammen.

Diese Positionen sind in der LINKEN selbst aber auch überhaupt nichts neues, sondern waren von Anbeginn dabei, unter WASG-Gründern wie beispielsweise Klaus Ernst und insbesondere bei Oskar Lafontaine, der der Partei bereits 2005 eine unappetitliche „Fremdarbeiter-Debatte“ bescherte. Diese Positionen waren bei OL damals aber auch überhaupt nichts Neues. Ich habe schon 1996 eine Rede von Lafontaine gestört und bin mit einem „Arbeitsplätze statt Aussiedlerhetze“-Transparent auf die Bühne gestürmt, und habe bereits 1993 gegen seine Mitwirkung an der faktischen Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl demonstriert, als OL sich einer rassistischen Welle nicht entgegenstemmte, sondern Konzessionen an sie machte.

Jeder, der 2005 eine Partei gemeinsam mit OL gründete, wusste, dass er sich seine Positionen mit in die Partei holt: Regulation der Zuwanderung, positiver Bezug auf einen nationalen Sozialstaat, eher Konzessionen als harte Kante gegenüber rechten Diskursen, zurück zur Sozialdemokratie der 70er …

Thies Gleiss

Zu 4.

Die Positionen von SW sind allerdings sehr neu. Bisher war ihre Argumentation, wenn du so willst, eine „taktische“. Sie behauptete, die AfD-Wähler mit ihrer Angst vor Geflüchteten und ihren Sehnsüchten nach dem guten alten Deutschland wären weniger rechts als wütend und irregeleitet. Man müsste ihnen zuhören und ihnen entgegengehen, um sie „zurückzugewinnen“ (obwohl, wie alle Studien mittlerweile zeigen, dass die gar nicht bei uns waren und uns verlassen haben).

Heute argumentiert SW komplett anders. Sie argumentiert „strategisch“.

Es sind IHRE EIGENEN Positionen, dass Politik nur im Nationalstaat möglich ist, dass es zu viele Migranten gibt, dass die gute alte Zeit zurückkommen und der links-grüne 68er-Sumpf ausgetrocknet werden muss. Ihr „Gegenprogramm“ lautet, die LINKE solle diese Positionen ÜBERNEHMEN.

Florian Wilde

5.

Gegründet wurde die LINKE als eine plurale antineoliberale Koalition ganz unterschiedlicher Milieus gegen Sozialabbau und Krieg. Das war ihr Gründungskonsens. Fragen des Antirassismus oder der Offenen Grenzen spielten damals keine so große Rolle, die Differenzen traten erst mit der Flüchtlingswelle und dem Aufstieg der AfD voll zu Tage, und leider war SW dann schon ganz auf die Positionen von OL umgeschwenkt.

Aber wer den Gründungskonsens der LINKEN als pluraler antineoliberaler Partei beibehalten will, muss auch diese Differenzen aushalten können. Wir sind eine plurale Partei, es gibt nun mal ganz unterschiedliche Auffassungen in ihr.

Man hätte mit der gleichen moralischen Empörung, die sich nun gegen SW richtet, bereits 2005 jede Zusammenarbeit mit OL ablehnen können.

Aber dann hätte es schlicht keine LINKE gegeben.

Thies Gleiss

Zu 5.

Ja, es gab den Gründungskonsens der LINKEN als programmatisch und strategisch plurale Partei. Dabei wurde nicht ausdrücklich, aber doch mehr oder wenig bewusst, auch das Thema Migration als offen angesehen.

Allerdings ist die konkrete Entwicklung zehn Jahre nach WASG und acht Jahre nach LINKE-Gründung rasant weitergegangen. Die „Geflüchteten“- und Migrationsfrage ist mit Macht auf ToP 1 der politischen Agenda gekommen, hat den Charakter eines Jahrhundertthemas angenommen. Die Geschichte erlaubt der LINKEN in dieser Situation leider keine offene Haltung zu diesen Themen. Deshalb gab es auch mehrfach eine eindeutige Mehrheitspositionierung und eine praktische Politik die dieser folgte. SW hat notorisch und mit ihrem Buch jetzt auch systematisch diese neue Entwicklung und die Mehrheitspositionen ignoriert und torpediert.

6.

Die Entscheidung für eine Mitarbeit in einer pluralen Linkspartei ist eine Entscheidung dafür, mit Menschen und Positionen zusammenzuarbeiten, die man nur schwer erträglich findet. Mir persönlich ist es fast unerträglich, mit Leuten in einer Partei zu sein, die Berlins kommunalen Wohnungsbestand für nen Appel und ein Ei an Immobilienkonzerne verschleudert, die den Blinden ihr Blindengeld gekürzt und die Tarifflucht begangen und Tausende Beschäftigte in Not und Elend gestürzt haben, bloß um für die staatstragende Rettung einer Landesbank ein bisschen Anerkennung von den bürgerlichen Medien zu erhalten.

Anderen ist es fast unerträglich, mit Putin-, Assad- oder China-Freunden in einer Partei zu sein, und wieder anderen bin wahrscheinlich ich als Linksradikaler mit trotzkistischen Wurzeln fast unerträglich, und wieder anderen sind es Sahras Positionen zur Migration.

Thies Gleiss

Zu 6.

Ja, die LINKE muss Widersprüche und Konflikte aushalten. Wer betont das seit Jahren mehr als ich? Aber wie unter 5. ausgeführt, hat dieses Prinzip, den Laden zusammenzuhalten, seine Grenzen dort, wo der praktische Druck zur richtigen Politik nicht relativierbar ist. Wir können uns nur den Solidaritätsaktionen für Geflüchtete anschließen oder nicht anschließen, ein Drittes gibt es nicht, deshalb muss die Mehrheitslinie darin maßgeblich sein.

Florian Wilde

7.

Der Gründungskonsens der LINKEN sollte beibehalten werden, und innerhalb dieses Konsenses radikal- und ökosozialistische, bewegungsorientierte, feministische und antirassistische Positionen gestärkt und verstärkt sichtbar gemacht werden – aber ohne den Konsens selbst aufzukündigen und die ihn tragenden Kräfte, zu denen von Anfang an auch OL mit seinen Positionen gehörte, aus der Partei drängen zu wollen. Die LINKE war immer schon eine Koalition ganz unterschiedlicher Milieus. Viele vonihnen sind mir kulturell fremd, und doch halte ich es für wichtig, dass sie eingebunden und auch repräsentiert bleiben. Und fraglos vermögen OL und SW Milieus zu erreichen und an die LINKE zu binden, die „meine“ Leute kaum erreichen können. Den Gründungskonsens der LINKEN aufzukündigen und auf eine Spaltung hinzuarbeiten ist so lange unverantwortlich, wie nicht eine Eruption der Klassenkämpfe das gesamte politische Feld umgepflügt hat.

Thies Gleiss

Zu 7.

Bezüglich der historischen Grenzen, den Gründungskonsens zu allen Fragen aufrechterhalten zu können, ist in 5. und 6. alles gesagt. Die anderen Sachbehauptungen von dir bezweifele ich sehr:

OL und SW erreichen die Milieus, die sie vorgeben zu erreichen, leider ebenso wenig wie du und ich. Wenn die LINKE all ihre realen menschlichen Kontakte in Betrieben und Stadtteilen mal mobilisieren würde, dann könnte sie diese Milieus vermehrt erreichen. OL und SW erreichen durch Interviews, Talkshows und Bücher das gleiche Milieu, das auch du und ich erreichen, nur deutlich umfangreicher. Es ist in diesem Sinn ein echter Treppenwitz, dass SW sich über zu viel Akademikerlastigkeit in der Partei beschwert.

Florian Wilde

8.

Die moralische Empörung, die sich nun gegen SW richtet, scheint mir insgesamt nicht ehrlich zu sein:

Denn wo ist die gleiche Empörung über die Abschiebungen durch von der LINKEN mitregierten Bundesländer? Um es ganz deutlich zu sagen: ich finde es ungleich schlimmer, Menschen in Elend, Tod und Folter abzuschieben, als den angeblichen Linksliberalismus der antirassischen Bewegung politisch zu kritisieren. Politische Kritik ist legitim. Abschiebungen sind ein Verbrechen. Wieso der Aufschrei über Sahras Buch, und woher das Schweigen über Abschiebungen, die die LINKE mitverantwortet? An den abschiebenden Regierungen ist Sarahs Flügel überhaupt nicht beteiligt, das sind andere Kräfte, und sie werden von keiner vergleichbaren Empörung getroffen.

Ja, ich finde es politisch bescheuert, die Klimabewegung frontal als linksliberal und bürgerlich zu kritisieren. Aber es ist eine inhaltliche und politische Kritik. Trotzdem wird SW von einer Welle der moralischen Empörung getroffen, die ich total vermisse, wenn im linksregierten Berlin mal wieder die Fahrpreise im ÖPNV erhöht werden, oder das Schienennetz privatisiert werden soll. Um es ganz deutlich zu sagen: ich finde es ungleich schlimmer, die Klimakrise durch Fahrpreiserhöhungen weiter anzuheizen, als sich politisch und kritisch mit der Klimabewegung auseinanderzusetzen.

Groß ist die Empörung, weil SW mit ihrer Kritik linke urbane Milieus abschrecken würde. Aber wo ist der innerparteiliche Aufschrei, wenn im linksregierten Berlin ein linkes Projekt nach dem anderen geräumt wird? Um es ganz deutlich zu sagen: ich halte es für einen weit schlimmeren Schlag ins Gesicht der radikalen Linken, ihr von der Rigaer über die Liebigstraße bis Syndikat und Meuterei alle ihre Orte zu rauben, als die radikale Linke als linksliberal zu kritisieren. SW kommt mit einem Buch. Im linksregierten Berlin kommt die Staatsmacht mit Knüppeln und Wasserwerfern. Ich finde Knüppel schlimmer als Bücher.

 

Thies Gleiss

Zu 8.

Hier irrst du dich nicht nur, sondern du tappst argumentativ mit Schmackes in die Falle, die SW u.a. aufstellen. Es ist faktisch schlicht falsch, dass sich niemand in der LINKEN über Abschiebungen, über Kriege im Jemen usw. aufregt. Das Gegenteil ist der Fall: Zu all diesen Themen ist die LINKE aktiv und als Oppositionskraft unterwegs, du persönlich ja vorneweg. Und ja, es gibt Regierungen mit LINKE-Beteiligung, die abschieben. Aber auch dagegen protestiert ein großer Teil der LINKEN bis hin zur Forderung, diese Regierungen zu verlassen. Aber du hast recht, hier funktioniert die Einhaltung einer gewissen Parteipluralität noch, wenn auch mit Zwicken und Zwacken, weil es sich um Einzelpunkte handelt. Was SW aktuell gerade abzieht, sind keine Abschiede von Einzelpunkten in einem ansonsten noch erträglichen Gesamten, sondern die Attacke ums Ganze.

Florian Wilde

9.

Um nicht missverstanden zu werden: Sahras Agieren ist politisch schädlich für die LINKE und quasi alle Positionen von SW sind inhaltlich falsch. Man muss sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen, sie zurückweisen und ganz andere Positionen und Zugänge stark machen. Aber dies muss als Teil einer innerlinken Debatte betrieben werden, ohne zu suggerieren, SW habe sich mit ihrem Buch völlig außerhalb jedes Diskurses der Linkspartei gestellt und sollte jetzt besser die Partei verlassen.

Thies Gleiss

Zu 9.

Ich wäre froh, ich könnte dir hier zustimmen und Ruhe geben. Aber ich befürchte, du unterschätzt, wohin es bei Sahra geht: Sie bereitet mit ihrer Operation offenkundig eine Spaltung vor. Sie möchte mit ihrem Kreis noch ein paar Mandate und materielle Möglichkeiten für die Zukunft gewinnen, und dann wird sie einen eigenen Laden aufbauen. Wenn es anders wäre, müsste jedenfalls ein klitzekleiner konstruktiver Aufbauansatz für die LINKE bei all dem Auftreten von SW erkennbar sein. Ist es aber nicht.

Florian Wilde

10.

Ich halte es aber für keineswegs ausgemacht, dass in den Konfliktlinien der Zukunft der Flügel um SW nicht auch wieder eine wichtige Bündnispartnerin sein wird, nämlich wenn es in Folge der leeren Kassen nach der Corona-Krise auch auf Landesebene wieder einen massiven Kürzungsdruck geben wird und auch Regierungen mit linker Beteiligung sich am Sozialabbau zu beteiligen drohen. Oder falls Deutschland sich wieder an Kriegen beteiligt.

Thies Gleiss

Zu 10.

Mit dem politischen Instrumentarium, dass SW in ihrem Buch unterbreitet, wird sie garantiert keine Bündnispartnerin in kommenden Verteilungskämpfen sein. Ihre nationale Borniertheit und das Ausblenden aller Verarmungs- und Ausgrenzungsprozesse außerhalb des engen Rahmens, den SW „Arbeiterklasse“ nennt, lassen eher ganz furchtbare Irrtümer erwarten, wer wann was und wie viel fordern darf. Ihr Programm ist in der Praxis (zum Glück wird sie nicht in die Verlegenheit kommen, es auszuprobieren, weil SPD und GRÜNE ihr alles vorwegnehmen) ein Programm des Kampfes innerhalb der Klasse, aber nicht Klasse gegen Klasse.

Florian Wilde

11.

Es muss darum gehen, ganz andere strategische Vorschläge als die der SW stark zu machen und mit ihnen hoffentlich Mehrheiten in Partei und Gesellschaft zu erlangen, Strategien, die nicht auf Repräsentanz, sondern auf Selbstermächtigung, nicht auf Stellvertretertum, sondern auf Selbstbefreiung setzen, Strategien einer verbindenden Klassenpolitik, der Gewerkschafts- und Bewegungsorientierung, des Internationalismus und des Klassenkampfes.

Der Kampf darum muss aber innerhalb des Gründungskonsenses der LINKEN als antineoliberaler Partei geführt werden, in der es für das Spektrum von OL und SW auch künftig einen legitimen Platz geben muss. Ich werde selbstverständlich auch künftig daran arbeiten, dass sie für ihre Positionen keine Mehrheiten finden werden. Aber nicht durch Exkommunizierung, sondern durch inhaltliche Auseinandersetzung und durch positive Beispiele dafür, wie die Linke tatsächlich gestärkt werden kann.

Thies Gleiss

Zu 11.

Ich stimme dir in Allem zu, damit zu gut schlafen kannst. Damit du aber auch gut träumst, muss ich dich aufklären: Nicht wir exkommunizieren SW und OL gegenwärtig. Lies ihr Buch. Es ist ja fast eine lutherische Streitschrift im Stil von „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, und wir sind nicht in der Situation der Prälaten und Fürsten gegenüber Luther. SW begründet gerade ihren eigenen Orden und nabelt sich von uns ab. Sie geißelt nicht nur die LINKE, sondern ihr System des Ablasshandels, das sie

Identitätspolitik nennt. Man mag das bedauern – angesichts ihrer Inhalte bedaure ich es nicht – aber sie wird gehen. Du wirst sie nicht aufhalten und ich auch nicht…