Bericht zur Sonder-Videokonferenz des Parteivorstandes der LINKEN vom 30.11.2021

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Von Thies Gleiss, Mitglied des Bundessprecher*innenrates der Antikapitalistischen Linken im Parteivorstand

SOLIDARISCHER LOCKDOWN UND IMPFPFLICHT

Am 30. November 2021 tagte der Parteivorstand der LINKEN als Videokonferenz.

An der Sitzung nahmen bis zu 35 der 44 gewählten PV-Mitglieder teil.

Zahlreiche Gäste von Landesvorständen, aus den Parlamentsfraktionen und interessierte Mitglieder hatten sich zugeschaltet, darunter die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch.

Alle Beschlüsse und Vorlagen sind auf der Website der LINKEN in Kürze nachzulesen:

https://www.die-linke.de/partei/parteidemokratie/parteivorstand/parteivorstand/beschluesse/

1. Die vierte Welle der Covid-Pandemie

Einziger Tagesordnungspunkt war die aktuelle Lage angesichts der vierten Welle der Covid-Pandemie und der hilflosen Politik der alten und designierten neuen Bundesregierung.

Dazu waren als Referenten eingeladen: Claudia Bernhardt, Gesundheitssenatorin der LINKEN in Bremen; Dr. Cihan Celik, Lungenfacharzt und Leiter der Covid-Station im Klinikum Darmstadt sowie Kai Uwe Helmes, Allgemeinarzt aus Hamburg und Mitglied der LINKEN.

Der Sitzung lagen eine Beschlussvorlage und mehrere Änderungsanträge dazu vor, die alle leider erst als quasi Tischvorlage kurz vor Sitzungsbeginn eingereicht wurden. Eine demokratische Diskussion und wirkliche Textarbeit sind dann nicht möglich. Es wäre besser gewesen, die Diskussion zu den Inhalten der Vorlagen zunächst ohne Beschluss zu beenden, und dann beispielsweise am Folgetag in einer weiteren kurzen Sitzung einen über Nacht abgestimmten und sauber formulierten Beschluss zu fassen.

Die Vorlage wurde abschließend in dieser hier eingefügten Form mit 24 Für-, 7 Neinstimmen und 5 Enthaltungen angenommen. Thies Gleiss hat sich enthalten.

Beschluss des Parteivorstandes vom 30. November 2021

Corona gemeinsam besiegen – solidarische Notbremse jetzt!

Die Bundesregierung agiert in der 4. Pandemiewelle so kopflos als wäre es die allererste. In kaum einem Land steigen die Inzidenzzahlen aktuell stärker als in Deutschland. Anderswo in Europa schaut man ratlos nach Deutschland und fragt sich, was hier los ist. In der Tat, amtierende und neue Bundesregierung haben offenbar aus den zurückliegenden Erfahrungen nicht sehr viel gelernt.

Dass Impfzentren abgebaut und Gratistests ausgesetzt wurden sowie das völlige Chaos bei den Booster-Impfungen hat die amtierende Bundesregierung zu verantworten. Statt die Vergabe der Impftermine wie in der letzten Welle danach zu priorisieren, wer besonders gefährdet ist, wird der Impfstoff nach dem Prinzip „wer zuerst kommt, malt zuerst“ vergeben. Risikogruppen und Pflegeheime werden erneut im Stich gelassen. Dieses Vorgehen kostet Menschenleben.

Die Untätigkeit nach Wochen steigender Zahlen liegt jedoch auch in der Verantwortung der kommenden Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Pflegekräfte am Limit und die Infektionszahlen steigen und steigen. Jeden Tag sterben Hunderte. Immer häufiger werden wichtige Behandlungen und Operationen in den Kliniken aufgeschoben. Es ist eine katastrophale Situation für Patient*innen, für Angehörige und die Beschäftigten in den Kliniken.

Mehr noch. Resignation, Apathie und Trauer, ja auch Wut und Zorn breiten sich aus im Land. Es wächst die Verzweiflung und das Misstrauen, es schwindet die Zuversicht. Das mindert nicht allein das individuelle Schutzverhalten vor der Pandemie, es erschüttert auch das gesellschaftliche Vertrauen in die Fähigkeit staatlichen Handels. Jede sinnvolle und solidarische Maßnahme zum Infektionsschutz schützt nicht nur gefährdete Menschen, sondern wird auch helfen, unsere Demokratie vor den anschwellenden Parolen rechter Verführer und falscher Propheten zu schützen.

Das Richtige zur richtigen Zeit tun. Wir brauchen jetzt akute Maßnahmen. DIE LINKE. steht an der Seite der Wissenschaft und fordert deshalb einen Lockdown sowie eine allgemeine Impfpflicht für Volljährige als Mittel zum Kampf gegen die herrschende Sars-CoV-2-Pandemie. Die Impfpflicht wird die vierte Welle nicht mehr brechen können, ist aber als ultima ratio ein entscheidendes Instrument, weitere Wellen zu verhindern und Menschenleben zu retten. Wir halten außerdem eine partielle und nur Berufsgruppen-gebundene Impfpflicht für unangebracht, da sie einerseits das Problem nicht lösen wird und andererseits noch mehr Druck und Verantwortung auf die Schultern des Pflegepersonals ablädt.”

jetzt

Wir brauchen Handlungen und schnelle Entscheidungen. Die Erfahrungen aus den letzten drei Wellen haben gezeigt, dass nur ein frühzeitiges, energisches Einschreiten die Dauer der Maßnahmen deutlich senkt. Es braucht daher schnelle Schritte, die endlich nach Kriterien wissenschaftlicher Erkenntnisse und der tatsächlichen Effizienz getroffen werden. Die Menschen sollen nicht schon wieder den ganzen Winter im Lockdown überdauern!

Ein Lockdown hätte durch frühzeitiges Handeln und relativ milde Maßnahmen vermieden werden können – so wie in vielen anderen Ländern auch. Das Desinteresse oder die Unfähigkeit der Bundesregierung aus den vergangenen Wellen zu lernen, macht fassungslos. Aber wir haben Vorschläge. Konkret und sofort.

Wir fordern:

Erstens, eine solidarische Notbremse. Das bedeutet die sofortige Kontaktreduktion und Absage von Großveranstaltungen. Dazu mehr Tests und das Recht auf Homeoffice, wo es irgend möglich ist. Alle Maßnahmen müssen sozial aufgefangen werden. Selbstständigen und Beschäftigten muss unbürokratischer und schneller geholfen werden als in den letzten Wellen. Wer in Kurzarbeit geht, muss 90 Prozent vom Lohn erhalten. Wer an die Vernunft der Menschen appelliert, sollte ihre Sorgen und Nöte respektieren und klar zusagen, dass niemand aufgrund neuerlicher Schließungsmaßnahmen zur Kontaktreduzierung seine Existenz verliert oder mit Einbußen rechnen muss. Es braucht einen lückenlosen sozialen Schutzschirm – ohne Wenn und Aber.

Zweitens, für uns ist klar: Impfen ist ein Akt der Solidarität. Um die hiesige Impfquote zu erhöhen, sollten alle noch existierenden Hürden abgebaut werden. Wir brauchen Gespräche, Gespräche und wieder Gespräche. Ja, noch immer gilt: Geduldige Aufklärung hilft. Nicht bei allen, aber bei möglicherweise sehr vielen. Vor allem bei denjenigen, die mangels Sprachkenntnissen noch nicht genug wissen, oder auch bei jenen, die staatlichen Maßnahmen misstrauen. Es gibt mehr als einen Grund, warum Menschen noch nicht geimpft sind und es gibt einige Vorbehalte, die mit geduldiger Information beseitigt werden können. Wir empfehlen den Einsatz von mobilen Impfteams in den Stadtteilen, Impfzentren müssen wieder geöffnet, und eine neue proaktive und transparente Impfkampagne gestartet werden. Booster-Impfungen sollen alle bekommen, aber zuerst jene, die am meisten gefährdet sind. Apotheken und Pflegeeinrichtungen müssen beteiligt und Abhol- und Bringdienste eingerichtet werden.

Drittens, damit diese erneute nationale Notbremse hoffentlich die letzte wird, muss auch international solidarisch agiert werden. Die Lizenzen für Impfstoffe müssen endlich global freigegeben werden, um das Risiko künftiger Mutationen und weiterer Pandemiewellen deutlich abzusenken. Die jüngste Entdeckung einer neuen Virusvariante zeigt, dass die Pandemie nur global besiegt werden kann, durch hohe Impfquoten weltweit.

Wir wissen: Dort, wo die Menschen ihrem Gesundheitssystem vertrauen, sind die Impfquoten höher. Und das Bundesverfassungsgericht hat uns heute gesagt: Eine Bundesnotbremse ist verfassungsrechtlich erlaubt. Eine schnelle Notbremse ist also möglich. Es ist Zeit nach ihr zu greifen, damit im Winter so viele Menschen wie möglich geschützt werden. Nach zwei Jahren Corona haben die Menschen eine verantwortungsvolle Politik verdient, die ihre Sorgen und Nöte ernst nimmt; eine Politik mit Sorgfalt und Augenmaß, die sie schützt und ihnen eine soziale Sicherheit gibt, damit wir Corona gemeinsam besiegen können.

Anmerkungen zur Diskussion

In den drei von medizinisch-politischen Fachleuten gehaltenen Einleitungen wurde deutlich, dass die Pandemie auch heute durch zwei Maßnahmenpakete eingedämmt werden kann:

Erstens eine konsequente Politik des „flatten the curve“, um die hohen Infektionszahlen zurückzudrängen. Es ist – wie es die Initiative „ZeroCovid“ und auch etwas moderater die LINKE bereits seit langem gefordert haben – ein solidarischer Lockdown erforderlich, in dem die sozialen Kontakte massiv reduziert werden. Dabei müssen insbesondere die intensiven und den täglichen „Normalbetrieb“ der Gesellschaft prägenden Kontakte in Betrieben und Büros, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und den Massenfreizeitevents gestoppt werden. Dafür sind große Summen Geld für Ausgleichs- und Entschädigungszahlungen, Kurzarbeitergeld und Umsatzersatz für Kleinunternehmen bereit zu stellen. Not- und Betreuungsprogramme für Kinder, überlastete Eltern, Pflegende und alle sonstigen besonders hart Betroffenen müssen viel umfangreicher als in den früheren Pandemie-Wellen angeboten werden.

Hier ist der aktuelle Aufruf der Initiative „ZeroCovid“, dem große Verbreitung gewünscht wird:

https://zero-covid.org/beendet-das-sterben/

Zweitens muss – gerade angesichts der erkennbaren Schwächen der bisherigen Impfstoffe und der Impfdurchbrüche – die Impfquote von Erst-, Zweit- und Auffrischungsimpfung erhöht werden. Impfen ist – das hat Kai Uwe Helmes in seinem Input schön herausgearbeitet – aus linker Sicht keine „individuelle Entscheidung“ der einzelnen Menschen, die notfalls per gesetzlicher Anordnung befohlen werden kann, sondern eine soziale Kampagne, vergleichbar mit Alphabetisierung. In einer kapitalistischen Klassengesellschaft ist die Skepsis gegenüber von „Oben“ verordneten Maßnahmen verständlich und muss zum Ausgangspunkt einer erfolgreichen Kampagne gemacht werden. Ebenso muss die elementare Erreichbarkeit der sozial und bildungsmäßig ausgegrenzten Unterklassen überhaupt erst einmal hergestellt werden. Das Impfen muss zu den Menschen kommen, barrierefrei, ohne Schikanen, ohne Gebühren sowie sprachlich und kulturell für die Betroffenen verständlich. Erst im Kontext einer solchen sozialen Kampagne kann auch eine gesetzliche Impfpflicht ein verstärkendes Mittel sein. Pflicht als Bestandteil einer solidarischen Beteiligung an der Gesellschaft – das muss am Ende rauskommen.

In der Diskussion wurde dann drittens, auch von Thies Gleiss, zusätzlich darauf hingewiesen, dass eine Pandemie-Politik immer von Beginn an internationalistisch sein muss. Die Kampagne zur Freigabe der Impfstoff-Lizenzen und für Solidaritätszahlungen an die armen Länder ist zu verstärken.

Leider fokussierte sich die Debatte dann fast ausschließlich auf die formale Frage der „Impfpflicht“. Wie ist sie durchzusetzen, ist sie verfassungswidrig, steht sie nicht gegen das Recht auf persönliche Entscheidung – das waren die Fragen, die allesamt zweitrangig sind und gleichzeitig auch Öl auf dieses absurde Feuer der „Corona-Leugner:innen“, aber auch auf den Unsinn, den zum Beispiel Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine zurzeit erzählen. Sie stellen alle nur auf die Frage des Impfens als persönliche Entscheidung ab und blenden den sozialen Charakter einer Impfkampagne als Klassenkampf wie auch die grundsätzliche Solidarität in Frage. Es gibt in einer Klassengesellschaft keine einzige Frage, die „individuell“, „freiwillig“ und „unabhängig“ entschieden werden kann. Linke Politik muss die dahinter stehenden sozialen Zwänge und Gewaltverhältnisse aufdecken und versuchen, sie zu überwinden.

Aber immerhin hat diese Fokussierung auf Nebenaspekte deutlich gemacht, dass die aktuellen Auftritte der prominenten LINKE-Vertreterin Sahra Wagenknecht nichts mit den politischen Grundlagen unserer Partei mehr zu tun haben. Sie wird es hoffentlich auch merken und berücksichtigen.

Thies Gleiss, Köln, 30. November 2021