Proteste gehen weiter trotz aller Widersprüche – ein Reisebericht aus Tuzla. Von Inge Höger und Carsten Albrecht
„Ich bin nicht Serbe, ich bin nicht Kroate, ich bin nicht Bosniake – ich bin arbeitslos.“ So steht es auf einem Plakat, das ein Demonstrant trägt. Auch 3 Monate nach ihrem Ausbruch gehen die Proteste bosnischer ArbeiterInnen und Jugendlicher weiter, wenn auch in geringerem Maße. In Tuzla tagt zwei mal wöchentlich das Bürgerplenum, Demonstrationen und Kundgebungen finden regelmäßig statt. Und in der Tat haben die bosnischen Proteste bereits einiges erreicht: Drei Kantonalregierungen sind zurückgetreten, die hohen Übergangsgelder ausgeschiedener Funktionäre (das sogenannte „weiße Brot“) wurde abgeschafft und einige Kantonalversammlungen haben Krankenversicherung einiger ArbeiterInnen übernommen. Letzteres war notwendig, da seit 1997 Unternehmen in Bosnien-Herzegowina nicht mehr verpflichtet sind, Sozialversicherungsbeiträge für ihre Beschäftigen zu zahlen. Tausende ArbeiterInnen leben in Armut, weil sie für ihre Krankenversicherungen selbst aufkommen müssen – ganz zu schweigen von der Rentenkasse. Noch schlechter geht es den Erwerbslosen: 45% der BosnierInnen haben keinen Job, die Jugenderwerbslosigkeit beträgt sogar 65%.
Vor diesem Hintergrund ist es logisch, dass nach Gewerkschaftsangaben in Bosnien eine Million Menschen nur zwei Mahlzeiten pro Tag haben. Das entspricht einem Viertel der Bevölkerung. Und es ist auch logisch, dass die Proteste gegen dieses Elend nicht vollumfänglich friedlich ablaufen konnten: einige Regierungsgebäude wurden zu Beginn der Bewegung in Brand gesetzt. „Molotowcocktails sind zwar nicht schön, aber ohne die hätten unsere Proteste kaum Aufmerksamkeit erfahren“, sagt ein Arbeiter, der seit 2 Jahren auf seinen Lohn wartet. Der Bürgermeister von Tuzla, Jasmin Immanovic, sieht das ganz anders. Er befürchtet die Unterwanderung der Proteste durch „kriminelle Elemente“.
In der Tat lenkt die Gewaltdiskussion, die die bosnischen Eliten und ihre Medien seither führen, von der sozialen Notlage ab, in der sich die meisten Menschen dort befinden.
Ukrainisches Szenario?
Als sich in den Tagen nach der ersten Großen Protestwelle in zahlreichen bosnischen Städten die „Bürgerplena“ formierten, um in direkter Demokratie politische Forderungen auszuarbeiten und zu formulieren, ging es den AktivistInnen auch darum, das „ukrainische Szenario zu verhindern“, erzählt uns der Plenums-Mitbegründer Vedad Pasic. „Denn Gewaltexesse oder einen neuen Krieg will wirklich keiner hier im Land“, so der Student. Der Bosnien-Krieg ist erst 19 Jahre vorbei, das Träume sitzt weiterhin tief in der Bevölkerung.
Aus diesem Grund setzen viele BosnierInnen ihre Hoffnung in die EU oder gar in die NATO. Diese Organisationen sind für viele ein Garant für Frieden. Das ist paradox, da die NATO wie kaum ein anderes Militärbündnis für Krieg steht und die EU mit ihren neoliberalen Diktaten keineswegs einen nachhaltigen – sozialen – Frieden schaffen kann. Dennoch ist die Orientierung hin zu vermeintlichen Schutzmächten sehr stark ausgeprägt und wird sogar von einigen VertreterInnen des Bürgerplenums befürwortet. Das liegt zum einen an der Empörung über das Versagen der lokalen Eliten. Eine Gewerkschafterin zitierte uns ein bosnisches Sprichwort: „Jedes Land hat seine Mafia, aber hier hat die Mafia ein ganzes Land.“
Das Plenum ist dennoch ein Versuch, Politik aus der Mitte der Bevölkerung heraus, „von unten“ zu machen. Die Aktiven wollen keine neue Partei gründen, sie sehen sich als Wachhund, der den Regierenden auf die Finger schaut und Vetorecht hat.
Die starke EU-Orientierung lässt sich aber auch mit der Jahrhunderte langen Kolonialgeschichte Bosnien-Herzegowinas erklären. Der Kolonialismus wurde zwar durch das jugoslawische Projekt unterbrochen, findet aber nun seine Fortsetzung. Erst waren es sie Osmanen, dann die Habsburger und seit 1995 sind es eben die EU-Bürokraten, die hier das letzte Wort haben. Folglich wenden sich viele BosnierInnen mit ihren Forderungen an diese Instanzen, weil ja letztlich eh alles von denen entschieden wird.
Korruption statt Produktion
Dem Druck von EU, Weltbank und IWF ist es auch geschuldet, dass in Bosnien – wie auf dem gesamten Balkan – massiv Staatsunternehmen privatisiert worden sind. Das Wie dieser Privatisierungen haben jedoch nicht selten die lokalen nationalistischen Eliten zu verantworten. Es lässt sich meist in der Formel „Korruption statt Produktion“ ausdrücken. Ohne Produktion gibt es für die ArbeiterInnen eben auch kein Gehalt. Eine Gruppe entlassener ArbeiterInnen des Waschmittel-Unternehmens DITA berichtet uns, dass jeder von ihnen seit über 2 Jahren ohne Gehalt lebt. Die Familie hilft aus, die Armut ist spürbar. Nach einer Weile fragen sie uns: „Habt ihr nicht ein deutsches Unternehmen, das unseren Betrieb übernehmen kann?“ Wer will diesen Leuten verübeln, dass ihr Vorschlag innerhalb der Privatisierungslogik ist? Die Verzweiflung der betroffenen ist so groß, dass jeder Ausweg recht ist. Linke Gruppen wie „Ljievi“ haben die schwere Aufgabe, den Privatisierungsprozess als solchen in die öffentliche Kritik zu tragen.
Fast jedes Gespräch, das wir in Tuzla führen, ist geprägt von der Spannung zwischen Aufbruch und Verzweiflung, zwischen Optimismus und Pessimismus, zwischen Selbstermächtigung und Fremdbestimmung.
Dayton II oder Soziales?
„Die Bewegung wäre dann erfolgreich gewesen, wenn man nicht damit begonnen hätte, über eine Verfassungsreform zu reden“, findet Vehid Sehic vom Bürgerforum Tuzla. Er berät die AktivistInnen des Plenums und ist der Meinung, dass sie es bei sozialen Forderungen hätten belassen sollen. Dasselbe sagen auch die GenossInnen von Ljievi: „Die wichtigsten Maßnahmen kann man auch ohne Verfassungsreform durchsetzen: Privatisierungsprofiteure zur Rechenschaft ziehen, Lohnzahlungen erwirken, Sozialbeitragspflicht wieder einführen.“
Andere denken, dass die Reform der 1995 von EU und USA aufoktroyierten Dayton-Verfassung eine Voraussetzung für sozialen Wandel ist. Denn die 10 Kantone, 2 Entitäten und 150 MinisterInnen generieren Eliten, die sich bereichern und jedweden Fortschritt blockieren. Der ehemalige Kroatische Präsident Stjepan Mesic schlug unlängst eine Dayton-II-Verfassung vor. Darin sieht er Bezirke vor, in denen keine Volksgruppe die Mehrheit stellt. Die kroatisch-nationalistische HDZ-Partei Bosniens war gar nicht angetan vom Vorstoß Mesics. In ihren Kreisen möchte man am liebsten eine kroatische Teilrepublik innerhalb Bosnien-Herzegowinas schaffen.
Ob Verfassungsreform oder nicht – wahrscheinlich hängt der Erfolg der sozialen Forderungen davon ab, wie stark die Proteste und Plena sind. Denn auch große Pessimisten geben zu: „Die Proteste haben erreicht, dass die Politiker nicht mehr machen können, was sie wollen.“ Das hat die Regierung der serbischen Teilrepublik Bosniens (Republika Srpska) schnell erkannt und sofort nach Ausbruch der Proteste linke AktivistInnen präventiv ins Gefängnis gesperrt. Dennoch haben auch in ihrer Regionalhauptstadt Banja Luka Demonstrationen stattgefunden, was VerschwörungstheoretikerInnen gern verschweigen.
Im Oktober finden in Bosnien-Herzegowina Wahlen statt. Da sich die Protestbewegung auf keine etablierte politische Kraft verlassen kann – NationalistInnen und SozialdemokratInnen sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung – wird es wahrscheinlich auf allen Ebenen neue Regierungen geben, die genauso sind wie die alten. „Es könnte dann im Frühjahr 2015 erneut zum Aufstand kommen – aber dann kracht’s richtig,“ Der Plenums-Aktivist, der uns das erzählt, mag sich nicht so ganz darauf freuen, denn bereits jetzt muss er mit Morddrohungen leben. Die Situation in Bosnien ist widersprüchlich. Eine Gewerkschafterin will den Mut nicht verlieren: „Eins ist klar, die Proteste haben die Menschen politisiert. Wir lassen uns nicht wieder nach Hause schicken.“
Artikel in gekürzter Form erschienen in: Junge Welt, 3. Mai 2014, Wochenendbeilage
Auf Englisch ist der Artikel erschinen auf antidotezine.com