Politische Auseinandersetzungen oder Cliquenkämpfe?

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Zur Struktur- und Finanzdebatte in der niedersächsischen LINKEN. Anmerkungen von Heino Berg zu einem Artikel von Manfred Sohn.

In seinen hier dokumentierten „Nachbetrachtungen“ hat der Landesvorsitzende der niedersächsischen LINKEN, Manfred Sohn, den Goslarer Parteitag kommentiert. Die Kritik von Linksjugend, KPF und AKL daran, daß sich die Landespartei dort mit keinem Beschluss zum Richtungsstreit über die Europapolitik und die Kandidatenliste positioniert hat, hält er für „naiv“ und äußert sich auch nachträglich mit keinem Wort zu der politischen Rechtsverschiebung, die nach Meinung fast aller Beobachter beim Hamburger Bundesparteitag stattgefunden hat.
Umso ausführlicher beschäftigt sich der Landesvorsitzende mit Satzungs- und Finanzfragen. Selbstverständlich können diese große Bedeutung für die Entwicklung einer Partei haben. Das bestreitet niemand. Die AKL wollte diese jedoch in Goslar keineswegs von der Tagesordnung absetzen, sondern NACH der Diskussion und Abstimmung über die inhaltlichen Schlüsselfragen aufrufen. Das hätte dazu beitragen können,  unsachliche und personenbezogene Auseinandersetzungen zu vermeiden, die dort leider zu besichtigen waren.
Manfred Sohn sieht offenbar in der Bundes- und Landespartei nicht mehr politische Flügel und Strömungen am Werk, die sich durch ihr Verhältnis zum kapitalistischen System, zur Sozialdemokratie und zur Regierungsfrage POLITISCH von einander unterscheiden,  sondern Seilschaften von Angestellten, die in erster Linie durch die Art ihrer Abhängigkeitsverhältnisse gekennzeichnet sind: „Das ist die politische Frage, die in Niedersachsen zu  einer Spaltung des Landesverbandes zwischen den Anhängern und Bediensteten der Parlamentarier auf der einen Seite und ehrenamtlich tätigen Mitgliedern und den Bediensteten des Landesverbandes auf der anderen Seite geführt hat.“ Sohn reduziert also die Probleme der Partei auf Cliquenkämpfe und seinen persönlichen Konflikt mit einigen Bundestagsabgeordneten aus Niedersachsen. Er beschreibt deren strukturelle Ursachen, ohne diese aber in den politischen Richtungsstreit der Gesamtpartei einzuordnen.
In der (so verengten) Sache selbst kann ich als Mitglied des niedersächsischen AKL-Landessprecherrates Manfred Sohn durchaus zustimmen. Es ist politisch ungesund und äußerst gefährlich, wenn „jeder der 4 Bundestagsabgeordneten“ aus Niedersachsen finanziell ebenso viel Einfluß auf die (Personal)Politik eines Landesverbandes ausüben kann, wie alle anderen Mitglieder zusammen genommen. Die von Manfred Sohn beschriebenen finanziellen Abhängigkeiten verzerren zweifellos die politische Meinungsbildung einer linken Partei, auch wenn sie nicht die eigentliche Ursache ihrer Probleme sind. Der Vorschlag von AKL-Mitgliedern, alle Diäten von Abgeordneten, die über das durchschnittliche Gehalt von Lohnabhängigen hinausgehen, der Partei oder außerparlamentarischen Bewegungen zur Verfügung zu stellen, könnte dieser Entwicklung entgegen wirken und gleichzeitig den Unmut in der Bevölkerung über die Selbstbedienung von Abgeordneten aufgreifen. (Leider hat der niedersächsische BT-Abgeordnete Diether Dehm die jüngste Diätenerhöhung nicht einmal abgelehnt, sondern sich – wie Klaus Ernst – dabei enthalten…)
Die Abhängigkeit ganzer Landes- und Kreisverbände von den Zuwendungen einzelner Abgeordneten schadet aber vor allem dann der Partei und der Motivierung ihrer Basis, wenn diese Mitglieder in den Kreisverbänden ihrer Meinung und ihren Vorschlägen nicht einmal über die internen und externen Kommunikationsplattformen ungehindert Ausdruck verleihen können. Die parlamentarischen Mandatsträger verfügen schon durch ihre Angestellten in der Parteiorganisation über ein enormes Gewicht, das durch finanzielle Zuwendungen, die an politische Auflagen geknüpft werden, noch weiter zunimmt. Sobald der politische Meinungsaustausch unter den ehrenamtlichen Basismitgliedern oder StrömungsvertreterInnen allerdings auch noch (wie in Niedersachsen) massiv eingeschränkt wird und auf den Webseiten des Landes- und der Kreisverbände nicht einmal persönlich gezeichnete Diskussionsbeiträge zugelassen werden, ist die Parlamentarisierung unserer Partei, in der „64 Prozent aller Delegierten des Bundesparteitages entweder Abgeordnete oder ihre Angestellten oder Angestellte des Parteiapparats und  die ehrenamtlich für die Partei tätigen Kräfte in einer hoffnungslosen Minderheitenposition sind“ praktisch vorprogrammiert.
Der Vorschlag des Landesvorsitzenden, daß „Menschen, die als Abgeordnete und ihre Angestellten oder Parteiangestellte auch außerhalb von Parteitagen genug politische Einflußmöglichkeiten haben, keine Delegierten auf Parteitagen werden können“, wird von vielen AKL-Mitgliedern durchaus begrüßt, auch wenn das insbesondere auf kommunaler Ebene schwer umsetzbar sein mag. Satzungsänderungen, die den Einfluß von Abgeordneten und ihren Angestellten einschränken, standen jedoch in Goslar gar nicht auf der Tagesordnung. Sie allein werden die schleichende (oder sollte man inzwischen sagen: galloppierende?) Parlamentarisierung unserer Partei und die Orientierung ihres hauptamtlichen Apparates auf Regierungsbündnisse mit neoliberalen Parteien nicht aufhalten oder umkehren können. Dafür ist eine politische Debatte über die Verteidigung unserer antikapitalistischer Grundsätze einerseits und die Stärkung der innerparteilichen Demokratie und der Mitwirkungsrechte der einfachen Mitglieder mindestens ebenso notwendig.
Göttingen, den 24.2.14

Bürgerliches Recht und sozialistische Partei
Nachbetrachtungen zu einem niedersächsischen Parteitag. Von Manfred Sohn
Am 8. Februar 2014 hielt der niedersächsische Landesverband der Partei DIE LINKE in Goslar seinen diesjährigen Parteitag ab. Die örtliche Presse berichtete ausführlich und wohlwollend – was angesichts der für den Folgemonat angesetzten kommunalen Wahlen ein Ziel der Veranstaltung war – die überregionalen Medien abgesehen vom „Neuen Deutschland“ nicht oder nur mit kurzen Meldungen.
Eine wuchtige Kommentierung unter der Überschrift „Sozialismus oder Paragrafen-Barbarei!“ gab es wenige Tage später vom Sprecher der Linksjugend „solid“ und am 13.2. in ähnlicher Richtung von der „Kommunistischen Plattform“ mit dem klagenden Kernsatz: „Es wurde deutlich, daß Inhalte keine Rolle mehr spielen.“
Beide bedauern vor allem, daß die Debatte um zwei Anträge des Landesvorstands zu Satzungs- und Finanzfragen des Landesverbandes so viel Raum eingenommen hätte und damit Beschlüsse zum Europawahlprogramm, das eine Woche später in Hamburg zur Abstimmung stand, nicht mehr gefaßt werden konnten.
Bei Jugendlichen ist die Enttäuschung über die von den Delegierten entschiedene Schwerpunktsetzung des Parteitags noch verständlich, bei einer Strömung, die sich selbst in der Tradition Lenins sieht, nicht – der große Mann hatte bei der Herausbildung der Bolschewiki zu Recht eine ganze Broschüre über eine scheinbar irrelevante Satzungsfrage verfaßt. Er hat dies damals getan, weil Satzungsfragen politische Fragen sind. Sie sind sogar in höchstem Maße politische Fragen, weil in Satzungen die Kräfteverhältnisse innerhalb einer Organisation am prägnantesten abgebildet sind. Wer Satzungsfragen für unpolitisch hält, ist genauso naiv wie jemand, der eine Debatte um eine Verfassung oder die zuweilen komplizierten Debatten um Gesetzesformulierungen für unpolitisch hält. Sie sind in diesem niedersächsischen Fall sehr politischer gewesen als eine noch so wuchtige Resolution zu einzelnen Formulierungen des Europawahlprogramms der Partei DIE LINKE, die angesichts der Kräfteverhältnisse auf dem Bundesparteitag bestenfalls ad acta gelegt, wenn überhaupt zur Kenntnis genommen worden wäre.
Die Frage, die den niedersächsischen Delegierten zur Entscheidung vorlag, war die nur scheinbar bürokratische Frage, ob weiterhin per Satzung festgelegt werden sollte, ob vor jeder weiteren Aufteilung der Mitgliedsbeiträge zwischen der Landes- und Kreisebene zunächst 15% dieser Mittel in einen „Landesausgleichsfonds“ fließen, der dann an finanzschwache Kreisverbände ausgezahlt wird. Der entsprechende satzungsändernde Antrag, den der Landesvorstand nach langwierigen Diskussionen vorgelegt hatte, ist bei Stimmengleichheit gescheitert.
Knapp angenommen wurde ein zweiter umkämpfter Antrag, durch den die Aufteilung der Mittel zwischen Landes- und Kreisebene künftig nicht mehr der Landesparteitag, sondern der Landesausschuß bestimmen solle. Auch das ist scheinbar Bürokratismus, hat aber folgenden Hintergrund: Der Landesausschuß ist ein häufiger als Parteitage tagendes Gremium, in dem alle Kreisverbände weitgehend unabhängig von ihrer Größe repräsentiert sind. Ihm ist per Satzung das Haushaltsrecht zugewiesen. Dieser parteiinterne Haushaltsgesetzgeber hat nun auch das Recht, den Finanzverteilungs-Schlüssel zwischen Kreis- und Landesebene festzulegen.
1,5 Millionen gegen 220.000
Was ist daran politisch?
Deutlich gemacht hat das jemand, dessen Beruf die Politik ist: Der Bundestagsabgeordnete Herbert Behrens, der sich nach der Debatte in einer persönlichen Erklärung gegen den Vorwurf verwahrte, er hätte angesichts der prekären finanziellen Lage der Landespartei seine Taschen zugenäht. Vielmehr sei er sehr freigebig und werde dies auch künftig sein. Aber er werde sein Geld nicht dem Landesverband, sondern einzelnen Kreisverbänden direkt zur Verfügung stellen.
Dies erhellt in der Tat den Kern der Kontroverse.
Der Landesverband besteht aus rund 2800 Mitgliedern, die – weil sie überwiegend wenig verdienen – alleine eine hauptamtliche Struktur der Partei nicht finanzieren könnten. Die Tatsache, daß es eine kleine hauptamtliche Struktur – drei Männer und eine Frau auf zusammen 3,02 tariflich einigermaßen vernünftig bezahlten Stellen – bisher gab, war so lange kein Problem, so lange es eine Landtagsfraktion gab, die durch ihre Mandatsträgerabgaben, die sie direkt an den Landesverband entrichtete, den Landesverband in die Lage versetzte, diese Struktur zu bezahlen. Mit dem Verlust der vorher 10köpfigen Landtagsfraktion entfiel diese Möglichkeit.
Der Landesvorstand hat – wie jedes Leitungsgremium einer Organisation, der wesentliche Finanzmittel wegbrechen – der Organisation ein heftiges Spardiktat auferlegt, das allerdings die hauptamtliche Minimalstruktur aufrechterhielt. Rechnerisch geht das alles nur auf, wenn die Kreisverbände, die bisher den größeren Teil der eingenommenen Mitgliedsbeiträge zugewiesen bekommen, eine Summe von insgesamt 15.000 Euro abgeben. Das war soweit in schwierigen, aber letztlich einvernehmlichen Gesprächen mit allen Kreisschatzmeistern – dem Landesfinanzrat – auch nahezu einstimmig so vereinbart. Bei einem Haushalt von 380.000 Euro verblieb aber eine Lücke von gut 30.000 Euro. Der Vorschlag des Landesvorstandes war, daß die Bundesabgeordneten, die sich bisher anders als die früheren Landtagsabgeordneten an der Finanzierung des Landesverbandes nur recht bescheiden mit je 200 Euro monatlich beteiligt hatten, ihr finanzielles Engagement deutlich erhöhen, so daß diese Finanzierungslücke dauerhaft geschlossen werde.
Das war der Punkt, an dem aus einer scheinbar rein finanziell-bürokratischen eine hochpolitische Frage wurde. Die vier Bundestagsabgeordneten haben das Ansinnen des Landesvorstands komplett zurückgewiesen.
Der politische Kern, der sich nun entfaltet, liegt ziemlich offen vor jedem, der hinsehen mag. Es geht um die Frage, ob eine Partei einzelne ihrer Mitglieder in Parlamente schickt oder ob Parlamentarier und ihre Angestellten sich zur Sicherung ihrer Arbeitsplätze und Privilegien eine Wahlkampforganisation halten.  Das ist die politische Frage, die in Niedersachsen zu  einer Spaltung des Landesverbandes zwischen den Anhängern und Bediensteten der Parlamentarier auf der einen Seite und ehrenamtlich tätigen Mitgliedern und den Bediensteten des Landesverbandes auf der anderen Seite geführt hat. Es sollte ebenso offensichtlich sein, daß der Ausgang dieser Auseinandersetzung von großer Bedeutung hinsichtlich des Charakters dieser Organisation und damit ihrer Fähigkeit ist, außerparlamentarische Kämpfe zu organisieren und die elende Parlamentsfixiertheit der bundesdeutschen Bevölkerung, die der Entfaltung einer kraftvollen Bewegung der Straßen und Betriebe wie ein Sperr-Riegel entgegenwirkt, zurückzudrängen.

Um einen Überblick über das politische Schlachtfeld von Goslar zu bekommen, müssen wir ein bißchen Geldmittel sortieren.
Die erwähnten 2800 Mitglieder zahlen rund 220.000 Euro Mitgliedsbeiträge. Jeder der vier Bundestagsabgeordneten verfügt über rund 100.000 Euro Abgeordnetendiäten im Jahr. Dazu kommen 50.000 Euro an steuerfreier Aufwandsentschädigung und knapp 200.000 Euro, die ihnen die Bundesverwaltung zahlt für Leute, die sie als ihre Angestellten einstellen. Die restlichen Privilegien – kostenlose Benutzung aller Schienenverkehrsmittel, Fahrbereitschaften, sorgenfreie Kranken- und Altersversorgung usw.  –  lassen wir hier außen vor. Der Kern dürfte aus den wenigen Zahlen deutlich sein: Jeder der vier Bundestagsabgeordneten kann finanziell mehr Geld in die Waagschale werfen als alle anderen Mitglieder des Landesverbandes zusammen. Alle vier zusammen bilden eine Finanzmacht von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr.
Sozialistische Partei oder Abgeordneten-Feudalismus?
Nun wäre es denkbar, daß sie – weil sie ja vom Landesverband auf die entsprechenden Listenplätze gewählt wurden, die ihnen diese einträglichen Finanzquellen erst erschlossen haben – diese Geldmittel abzüglich eines normalen Tarifangestellten-Gehaltes per Spende an den Landesverband abgeben und dem Landesverband sagen: Schlagt uns doch mal vor, wen wir einstellen sollen und dann machen wir halbe/halbe: Die Hälfte der Angestellten suchen wir selbst aus und die andere Hälfte stellen wir entsprechend Eurer Vorschläge ein. Kein Gesetz, auch das über die Parteienfinanzierung nicht, stünde dem entgegen. Genau dies aber haben sie – bislang erfolgreich – erbittert verweigert. In der Sitzung, in der der Landesvorstand mit großer Mehrheit nach langer Debatte den oben geschilderten Antrag verabschiedet hat, hat der schon erwähnte Abgeordnete Behrens einen Gegenantrag gestellt: Statt Spenden würden die vier Abgeordneten dem Landesverband einen Kredit geben. Der wäre allerdings an die Voraussetzung geknüpft, allen Mitarbeitern des Landesverbandes zum nächst möglichen Termin die Arbeitsverträge und auch das Landesbüro zum nächst möglichen Zeitpunkt zu kündigen. Damit verknüpft machten die Abgeordneten außerdem das Angebot, die bisher über die Landesmittel bezuschußten Büros einer ganzen Reihe von Kreisverbände direkt zu bezuschussen.
Statt also dem Landesverband einen Teil der Einnahmen, die sie dem Landesverband verdanken, zu geben und die Verteilung dieser Mittel den demokratisch gewählten Gremien – vor allem dem Landesausschuß als der Vertretung aller Kreisverbände – zu übereignen, läuft der Vorschlag der Bundestagsabgeordneten darauf hinaus, die gegenwärtige Finanzlage des Landesverbandes dazu zu nutzen, die Finanzierung des Landesverbandes durch die Einstellung ihr genehmer Angestellter und die finanzielle Förderung ihr gewogener Kreisverbände und deren Delegierten auf den Versammlungen zur Aufstellung von Landeslisten selbst zu übernehmen. Finanziell ist das für sie aufgrund der Privilegien, die der bürgerliche Parlamentarismus ihnen zur Verfügung stellt, überhaupt kein Problem. Was aber wäre das anderes als die Verwandlung einer demokratischen Struktur in einen Abgeordneten-Feudalismus mit tendenziell mafiösen Strukturen?
Das Ergebnis wäre: Der bürgerliche Staat versetzt vier Mitglieder einer sozialistischen Partei finanziell in die Lage, die hauptamtliche Struktur dieser Partei an den gewählten Gremien vorbei zu bestimmen. Sie wären aufgrund der Stellung auch in der Lage, über ihre Angestellten in die Arbeit der Kreise steuernd so einzugreifen, daß sie (wenn sie sich nicht völlig blöde anstellen und einigermaßen zusammenarbeiten) die Auswahl desjenigen Delegiertenkörpers in hohem Maße beeinflussen können, der alle vier Jahre die Listen für die Neuwahlen zu bürgerlichen Parlamenten aufstellt. Der Kern liegt wie dargelegt daher in der Frage, ob der bürgerliche Parlamentsbetrieb sich auf diese Weise einen Brückenkopf nicht nur in bürgerlichen Parteien (die damit naturgemäß überhaupt keine Probleme haben) schafft oder ob eine sozialistische Partei einzelne ihrer Mitglieder, eng geführt von der Partei, in bürgerliche Parlamente schickt, damit sie dort deren sozialistische Positionen verkünden.
Die Chancen dafür, daß der bürgerliche Parlamentarismus die sozialistische Partei dieses Landes zerfräst, stehen gut. Auf den erwähnten Landesparteitag haben sich vor allem Abgeordnete und Angestellte der Abgeordneten in die vorderste Front derer eingereiht, die den Antrag der Kreisschatzmeister und des Landesvorstands erbittert bekämpften. Stilbildend war dabei eine Delegierte, die schrill die Bedeutung des Ehrenamts betonte und für eine größere Unabhängigkeit der Kreisverbände vom Landesverband plädierte – und selbst hauptamtlich angestellt ist bei einer Abgeordneten, die wie einst der Feudaladel ihre Gelder einzelnen Departments zukommen lassen will statt sie den Landesgremien zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise bildet sich zur Zeit neben den demokratisch gewählten Gremien eine Art Unterströmung heraus. Sie verfügt über in politischen Auseinandersetzungen zwei wesentliche Ressourcen: Sie verfügt wie dargestellt über erhebliche Geldmittel und sie kauft damit Angestellte, die über Zeit verfügen, die sie für die innerparteiliche Arbeit einsetzen können – weisungsabhängig von den Abgeordneten. Denn ihr gutes bürgerliches Recht, so steht es im Gesetz, besagt, daß sie einerseits von allen Weisungen einer Partei frei sind, andererseits aber alle ihre Angestellten rechtlich prekär sind, weil jeder Abgeordnete per Gesetz eine Ich-AG ist, die als Tendenzbetrieb so organisiert ist, daß inhaltlich abweichende Meinungen der Angestellten ohne weitere arbeitsrechtliche Probleme zum Verlust der Arbeitsplätze dieser abhängig beschäftigten Menschen führen. Es gibt kaum jemanden (außer vielleicht in Familien- und Kleinbetrieben ohne Betriebsrat), der in diesem Lande über seine Angestellten per Gesetz so frei schalten und walten kann wie Abgeordnete.
Vor allem aber wandelt sich vor unseren Augen zur Zeit die Struktur dieser Partei. Während – solid sei das verziehen – große Debatten geführt wurden um einzelne Formulierungen eines Wahlprogramms, das wahrscheinlich außerhalb der politischen Kaste kaum jemand liest, ist von den meisten das für die Zukunft der Partei wichtigste Dokument des Bundesparteitages überlesen worden: Der Bericht der Mandatsprüfungskommission. Er beinhaltet die nüchterne Feststellung, daß inzwischen 64 Prozent aller Delegierten des Bundesparteitages entweder Abgeordnete oder ihre Angestellten oder Angestellte des Parteiapparats sind. Die ehrenamtlich für die Partei tätigen Kräfte sind in einer hoffnungslosen Minderheitenposition. Es ist eine Illusion, zu glauben, daß eine Partei, die dermaßen parlamentsgeprägt ist, außer in Sonntagsreden eine wirkliche Prägung durch Auseinandersetzungen erfahren könnte, die den Alltag all derer bilden, die ihre Arbeitskraft als Lohnabhängige in Betrieben verkaufen, die nicht im künstlichen Biotop des Parlamentarismus angesiedelt sind.
Das alles ließe sich ändern. Zum Beispiel könnte bestimmt werden, daß Menschen, die als Abgeordnete und ihre Angestellten oder Parteiangestellte auch außerhalb von Parteitagen genug politische Einflußmöglichkeiten haben, keine Delegierten auf Parteitagen werden können.  Das wäre noch nicht einmal sozialistisch, sondern würde nur das Modell der bürgerlichen Gewaltenteilung ernst nehmen und die Autonomie der Partei gegenüber der Dominanz von Abgeordneten und Apparat stärken. Aber wer wollte ernsthaft eine solche Satzungsänderung versuchen, wenn die Macht der Abgeordneten schon jetzt so stark ist, sich einen ganzen Landesverband zu unterwerfen – und sei es auch nur ein so kleiner wie der niedersächsische?

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