Männer, die auf Zahlen starren

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Zur nicht enden wollenden Sommerdebatte über Rot-Rot-Grün. Von Thies Gleiss

Der Wahlkampf in der Supermacht des europäischen Kapitalismus, Deutschland, ist todlangweilig. Die vier Hauptakteure, CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne, sind sich in allen Hauptfragen einig. Es geht deshalb um schnöde Machtfragen, um Pöstchen und Personalgeschiebe – nicht um Inhalte. Diese mittelbaren Dinge bewegen die betroffenen Parteien und Kandidatinnen, sonst kaum jemanden. Die Menschen außerhalb der Sphäre der BerufspolitikerInnen und die außerparlamentarische Öffentlichkeit werden dabei von großen Themen bewegt. Die tiefe Krise der Europäischen Union und der  in ihr integrierten Währungsunion; die Verselbständigung der nationalen und internationalen Überwachungsbehörden, bekannt als NSU- und NSA-Skandale; die offene Boykotthaltung der Stromkonzerne bei der Umsetzung der Energiewende; die sich rasant verstärkende Krise bei der Versorgung mit bezahlbaren Wohnraum und nicht zuletzt das neue fürchterliche Kriegsgeschrei gegenüber Syrien – eine Zeitbombe am Schmelztiegel der Krisen des 21. Jahrhunderts, dem Nahen Osten.  Bei all diesen großen Fragen sind die vier Parteien Täter und Angeklagte. Greift eine Partei eine der anderen auf diesem Gebiet hat, fällt das sofort auf die eigenen Füße.

Als einzige Parlamentspartei gehört die LINKE nicht zu diesem Kartell. Sie ist das Schmuddelkind, mit dem keiner spielen will oder darf. Die LINKE wäre gut beraten, genau dieses Image selbstbewusst aufzugreifen. Sie hätte damit, zumal wenn dies mit einem Bewegungs- und Stadtteil bezogenen Wahlkampf verbunden wird, die Chance, neue Stimmen für sich zu mobilisieren und die Stammwählerschaft fester an sich zu binden.

Normalerweise sind in einem Wahlkampf nur geringfügig neue gesellschaftliche Kräfte zu gewinnen. Wahlkämpfe, selbst die guten und authentischen, sind grundsätzlich nur in der Lage, das zu mobilisieren, was an gesellschaftlicher Unterstützung zuvor aufgebaut wurde. Aber so normal für deutsche Verhältnisse ist dieser Wahlkampf nicht. Der Druck, zukunftsfähige Antworten auf die verschiedenen Krisen zu finden ist groß, gleichzeitig fliehen aber fast alle politischen Akteure in haarsträubende Floskeln. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird deshalb die Gruppe der NichtwählerInnen am 22. September die eigentliche Mehrheit stellen.  Es wird mit einer rekordverdächtig niedrigen Wahlbeteiligung von unter 70 Prozent gerechnet.  Der Atlas dieser NichtwählerInnen ist ziemlich deckungsgleich mit der Verteilung nach Einkommen und Bildungsversorgung.  Das gesellschaftliche Klientel, das allein durch die LINKE eine Stimme bekommen könnte, hat gleichzeitig in ihren großen inhaltlichen Erwartungen die größte Nähe zur LINKEN.  Wohnungsnot, Energiekosten, Bildungsmangel, schlechte Gesundheitsversorgung, finanziell ausgeblutete Kommunen und prekäre oder keine Beschäftigungsverhältnisse: Das Wahlprogramm der LINKEN ist ein Programm für die meisten Wahlverweigerer und die Viertel, in denen sie wohnen. Nichtwähler sind nicht automatisch links, aber der große Teil von ihnen könnte für linke Inhalte gewonnen werden. Die LINKE als moderne Arbeiter- und Erwerbslosenpartei – dieses Bild könnte im Wahlkampf hervorragend aufgebaut werden.

 

Der falsche Wahlkampf der LINKEN

 

Leider ist die LINKE zu einem solchen Wahlkampf nicht in der Lage.  Maßgebliche Kräfte in der Partei wollen ihn nicht und die meisten in den sieben Jahren Parteigeschichte aufgebauten Strukturen können einen solchen Wahlkampf auch nicht – mehr – führen.  Einmal mehr konzentriert sich der Wahlkampf der LINKEN auf einen Wettbewerb mit den anderen Parteien um den aufgeklärten Wähler und die aufgeklärte Wählerin.  Es ist der von den etwas platter argumentierenden Handwerkern in den Wahlkampfzentralen stets als „Kampf um die Mitte“  bezeichnete Feldzug mit Unmengen an bedrucktem Papier und Plakaten mit Fotografien kaum bekannter Menschen.  Ein solcher Wahlkampf kennt nichts anderes als Stellvertreterpolitik, die immer hilflos ist und meistens zusätzlich nur eine bewusste Deaktivierung der Menschen bezwecken soll. Wahlen individualisieren politische gesellschaftliche Auseinandersetzungen immer auf den privaten Akt des Kreuzchenmachens. Oder wie Rainer Barzel seinerzeit gegen Willy Brandt anführte: „Bei den Wahlen gehen keine Betriebe zur Wahl, sondern Mann für Mann und Frau für Frau“. Der heutige Wahlkampf auf dem Hintergrund großer kollektiver gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Interessenskonflikte erscheint in dieser Hinsicht besonders absurd und besonders infam beim Versuch, die Menschen zu entpolitisieren und zu deaktivieren. Die LINKE müsste  sich diesem Spektakel komplett widersetzen. Ein Wahlkampf ohne die Attitüde der Stellvertreterpolitik, ohne die Heiligsprechung der Spitzenkandidaten (eigentlich ja nur „des“ Spitzenkandidaten); ein Wahlkampf des Kontrastprogramms zu der papiernen Materialschlacht der anderen – ein Wahlkampf eben, der auf die Aktivität von Tausenden unbekannter, aber leidenschaftlicher Mitglieder und UnterstützerInnen setzt und ihnen die Hauptrolle zuordnet und nicht so wie heute, wo solche Aktivität natürlich auch gern gesehen wird, aber eben nur als Beiwerk zum Auftritt der großen Persönlichkeiten.  Es wäre ein Wahlkampf der klaren, aber auch manchmal bunten und die Verschiedenartigkeit des gesellschaftlichen Widerstandes widerspiegelnden Sprache. Es wäre ein Wahlkampf der unten entwickelt und umgesetzt wird, in dem die zentrale Wahlkampfleitung und schon gar die professionelle Werbeagentur nur unterstützende und verstärkende Funktionen haben, nicht aber alles vorgeben und vom Parteivolk die hierarchisch verordnete Umsetzung einfordern.  Kurzum es wäre ein Wahlkampf, der wenigstens versucht, die alte und am besten zündende Parole „Jetzt wählen wir uns selbst“  mit Leben zu füllen „Jetzt wählen wir uns selbst“  – das ist die in den Wahlkampf übersetzte Losung aller gesellschaftlichen  Kämpfe:  „Jetzt wehren wir uns selbst“.

 

Vom Lager zum Korrektiv

 

Die LINKE wird trotz solcher haarsträubend in die Arme der politischen Elite des Landes flüchtenden Wahlkampfstrategie wahrscheinlich auch bei dieser Bundestagswahl ein respektables Ergebnis einfahren. Das größte Verdienst dabei kommt den vier anderen Parteien zu, die unermüdlich mit dem Schlachtruf hausieren gehen, die LINKE wäre von Übel und gehöre nicht in den Kreis der Auserwählten. Was kann einem Schöneres passieren: Die großen inhaltlichen Zuspitzungen der Zeit geben der LINKEN recht, ein gutes Drittel der Wahlberechtigten ist desillusioniert oder wenigstens abgestoßen vom Politikgeschäft und Wahlkampf der anderen Parteien und diese Parteien erklären zusätzlich, sie wollten mit diesen LINKEN auch gar nichts zu tun haben.  Kann es eine deutlichere Aufforderung geben, dass die LINKE sich fast ausschließlich und vorrangig als Opposition mit großen O aufbauen und einbringen soll?

Je nach Temperament mit Fassungslosigkeit, Verbitterung oder Spott ist jedoch festzustellen, dass maßgebliche Kräfte in der Spitze der Partei und der KandidatInnenlisten von einer solchen Orientierung nichts wissen wollen.

Die bürgerlichen Medien und die so genannten Parteien- und Wahlexperten kompensieren die Langweiligkeit und Inhaltslosigkeit des Wahlkampfes  damit, dass sie sich nicht mit ihm beschäftigen, sondern nur über mögliche arithmetische Ergebnisse spekulieren. Ihr Lieblingsthema ist die „Koalitionsfrage“ – dabei sieht jedes Kind, dass diese Frage seit langem entschieden ist. Kriegstreiberei, Bankenrettung,  EU-Orientierung, Niedriglohnsektor, Rentenkürzung und Privatisierungen sind Kernelemente aller Parteien außer der LINKEN. Alle großen Entscheidungen der letzten Jahre wurden gemeinsam getroffen, der Streit ging, wenn überhaupt, um Nuancen oder wie meistens nur um den Anteil an den mit dieser Politik jeweils zu vergebenen Posten.  Wo ist da noch eine „Koalitionsfrage“ offen? In den sieben Jahren der Existenz der LINKEN wurde diese ganz große Koalition in allen Schattierungen und Konstellationen praktiziert. Allein die LINKE wurde ausgegrenzt und lediglich in Brandenburg als Regierungspartnerin akzeptiert. In Berlin wurde sie ohne große Trauerarbeit abserviert.

Dennoch fabulieren führende Mitglieder der LINKEN – allen voran Gregor Gysi – von möglichen Konstellationen, in denen der LINKEN eine aktive Rolle zugestanden wird.

Bis zum traurigen Ausgang der Niedersachsenwahlen behaupteten diese Irrealos, es gebe ein „linkes Lager“ aus SPD, Grüne und LINKE, eine Mehrheit „links von der Mitte“.  Es wird gar nicht mehr die Mühe gemacht, empirisch nach Spuren dieses Lagers zu suchen. Allen Wahlergebnissen und realen Koalitions- und Sondierungsgesprächen zum Trotz wurde dieses Lager verkündet.

Erst nach der weiteren empirischen Tatsache in den Niedersachsenwahlen, dass die LINKE gewinnt, wenn die SPD verliert und umgekehrt, ließen die Lagerfreunde ihre Thesen etwas abklingen. Ein schöner Artikel von Oskar Lafontaine, der diese Erkenntnis nach langer Zeit auch gewann und verkündete, gab der Lagertheorie einen weiteren Stoß. An ihre Stelle  trat bei den betreffenden Parteikräften aber eine eher noch irrealere Theorie, die wiederum von Gysi fast bis zur Selbstaufgabe verkündet wird: Die LINKE wäre zwar nicht Teil eines Lagers, aber sie wäre das vom lieben Gott auserwählte  Korrektiv der SPD. Die LINKE wählen, um die SPD zu korrigieren, nach links zu drücken oder wie die schönen Losungen seitdem auch heißen.

Selbstverständlich reagiert die SPD – wie jede andere Partei auch – auf die Tatsache, dass ihr Stimmen bei Wahlen verlustig gehen. Sie ändert ihre Rhetorik und die Lautstärke. Zu einem Austausch ihres Spitzenpersonals – was immerhin jeder x-beliebige Fußballverein im Falle des Misserfolges vollzieht – ist sie schon nicht mehr bereit.  Art und Weise dieser „Korrekturen“ obliegen komplett der SPD-Führungsriege, einen direkten Einfluss der LINKEN gibt es nicht.

Fast Partei schädigend werden die flotten Thesen von Gysi und anderen, wenn eine politisch-historische Perspektive eingenommen wird, was für Linke eigentlich selbstverständlich sein sollte. Die LINKE ist mindestens zur Hälfte Produkt des Niedergangs der SPD. Für zehntausende Menschen ist sie nach langen Jahren des Darbens ein Lichtblick und eine Alternative. Im Hegel’schen Sinne ist die LINKE die Aufhebung der SPD, ihre konkret gewordene Alternative. Wer in einer solchen Situation davon spricht, die LINKE wäre nur ein Korrektiv der SPD, und wenn die Korrektur vollzogen ist, wird alles wieder gut, der verprellt wesentliche Träger der eigenen Parteigründung, der hat die historische Zäsur, die zum Verlust der Hälfte der Mitglieder und WählerInnen der SPD führte, nicht im Ansatz begriffen.  Die SPD ist nicht zu korrigieren. Sie wäre mit neuen Leuten an der Spitze und einem neuen Programm quasi neu zu gründen – aber dann würde die LINKE verschwinden  und keine Existenzberechtigung haben. Niemand ist in der SPD heute dazu bereit und so gut wie alle setzten auf die Alternative, die da heißt, Zerschlagung der LINKEN.

 

Zahlen, Zahlen, nichts als Zahlen

 

Statt die authentischen Inhalte der LINKEN in den Wahlkampf zu tragen, wird deshalb in diesen Parteikreisen ähnlich wie in den bürgerlichen Medien nicht über den Gang des Wahlkampfes gesprochen, sondern über die Zahlen eines möglichen Wahlausgangs spekuliert.  Es ist völlig klar, dass die SPD keine Alleinregierung stellen wird und zunehmend unklarer wird es, ob sie es gemeinsam mit den Grünen schaffen kann.  Gysi beteuert jetzt unermüdlich, aus diesem Dilemma würde sich eine wachsende Bereitschaft der SPD ergeben, die LINKE dann mit ins Boot zu holen. Dass die SPD das nicht will, dass sie eher mit CDU oder FDP zusammengehen wird, ist offenkundig. Die SPD und ebenso die Grünen haben im Gegensatz zur häufig vorgetragenen Behauptung mit der LINKEN nur eine extrem kleine gemeinsame Schnittmenge an programmatischen oder aktuellen politischen Fragen. Der allgemeine Mindestlohn gehört ausdrücklich nicht dazu. Die Vorstellungen von SPD und Grünen zum Mindestlohn sind quantitativ nicht dazu geeignet, Altersarmut und eine ähnliche Wirkung wie die Hartz.-Gesetze auf das gesamte Lohnniveau zu verhindern. Strukturell werden sie insbesondere den gewerkschaftlichen Zielsetzungen in Verbindung mit einem Mindestlohn nicht gerecht. Die LINKE müsste einen solchen Mindestlohn ablehnen. Ähnlich minimal sind Gemeinsamkeiten bei der Korrektur der Rente ab 67, der Bürgerversicherung und der Schulpolitik. Es sind Gemeinsamkeiten, die höchstens einzelne und sehr beschränkte politische Initiativen ermöglichen.

Die LINKE wird deshalb von SPD und Grüne zurecht nicht als ernsthafte Bündnispartnerin angesehen, sondern als Störkörper.  Hätte die LINKE gesunden Realitätssinn, würde auch sie sich nicht als Bündnispartnerin der SPD sehen oder sich anbiedern. Wenn dies von Gysi und anderen trotzdem immer wieder versucht und verkündet wird, so ist das nicht nur Ausdruck der politischen Beschränktheit, sondern auch eine mal mehr, mal weniger infame Verniedlichung der wirklichen Differenzen zur SPD in Fragen der Bundeswehr, der Macht der Banken und Konzerne, der Umwelterhaltung und der sozialen Gerechtigkeit.

Die Zahlen am Abend des 22. September, egal, wie sie ausfallen, werden diese politischen Realitäten nicht auslöschen. Sollte die LINKE rein rechnerisch zusammen mit den Grünen und der SPD einen Kanzler wählen können, so gibt es nur zwei Möglichkeiten. Eine wagemutige und eine etwas solidere. Wäre die LINKE wagemutig, dann würde sie Peer Steinbrück OHNE Bedingungen und Verhandlungen zusammen mit den Grünen zum Kanzler wählen und ihn auffordern, ab sofort gute Politik zu machen. Für jede Einzelmaßnahme einer solchen Minderheitsregierung, die der LINKEN gefällt, gäbe es dann eine Mehrheit mit der LINKEN. Für andere Dinge müsste sich die Mehrheit dann woanders gesucht werden. Jede Verhandlung oder Bedingung wäre ein Fehler, weil sie Programm und Politik der LINKEN zur Verhandlungsmasse degradieren, weil sie vorgaukeln, es gäbe zwischen SPD und  LINKE genügend Gemeinsamkeiten für ein „Geben und Nehmen“ und weil sie die Möglichkeiten einer 10-Prozentpartei völlig überschätzen.

Eine solche Taktik und eine solche Minderheitsregierung wäre für die deutsche Parlamentskultur eine erfrischende Bereicherung und ein Dienst an der Demokratie, in dessen Verlauf auch so schreckliche parlamentarische Bräuche wie Fraktionszwang, Treue zum Vorsitzenden, Gremienloyalität usw. entstaubt und abgeschafft werden könnten.  Für die LINKE wäre es aber Wagemut. Wagemut in der Taktik setzt näümlich Festigkeit und Geschlossenheit in der Strategie voraus. Die ist aber bei der LINKEN nun wahrlich nicht gegeben. Wenn die heutige LINKE gegenüber der SPD „taktiert“, läuft sie Gefahr, dass die Hälfte ihrer Funktionäre dies missversteht und komplett überläuft. So sehr der Autor dieser Zeilen die wagemutige Variante  auch mag,  besser wäre für die LINKE deshalb eine gelassene politische Aufstellung im Wahlkampf, am Abend des Wahltages und danach als kämpferische und kompromisslose Opposition.  Auch das täte der Demokratie in Deutschland gut, wäre aber für die LINKE vor allem ein weiterer bewusster Schritt zum Aufbau einer sozialistischen Partei, die zur Meinungsführerin in der Gesellschaft wird.

Thies Gleiss, Köln, 6.9.2013 

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