Undemokratisches Vorgehen der Parteiführung ist ein Eigentor und gefährdet Einzug in den Bundestag
Als Delegierte*r des LINKE-Bundesparteitags fragt man sich in diesen Tagen, warum man sich die Mühe gemacht hat, ein Wahlprogramm zu lesen, Änderungsanträge zu diskutieren, einen Parteitag abzuhalten und darüber abzustimmen. Die Partei- und Fraktionsvorsitzenden haben gestern ein „Sofortprogramm für einen Politikwechsel“ vorgelegt und das Wahlprogramm der Partei damit in die politische Mülltonne geworfen.
Von Sascha Staničić
Dabei geht es nicht (nur) und in erster Linie darum, was in diesem Sofortprogramm steht, das nicht einmal der Parteivorstand vor der Veröffentlichung lesen, geschweige denn beraten konnte. Es geht um das Signal, das von dieser Veröffentlichung ausgeht. Und wer glaubt, dieses Signal sei ein cleverer Schachzug, um Wähler*innenstimmen in den letzten Wochen des Wahlkampfes zu mobilisieren, der oder die irrt sich. Das Gegenteil wird der Fall sein: wenn überhaupt, werden solche Signale Stimmen kosten. Und damit den Einzug in den Bundestag gefährden.
Denn bei diesem Papier geht es um nichts anderes, als um diese Botschaft: DIE LINKE ist schon vor dem Wahltag bereit, ihr Programm abzuspecken, in der Hoffnung mit einem abgespeckten und entradikalisierten Programm von SPD und Grünen als regierungsfähige Partei anerkannt zu werden.
Maximum an Kompromissbereitschaft
Der inhaltliche Charakter des Papiers wird in einem Kommentar von Stephan Hebel in der Frankfurter Rundschau auf den Punkt gebracht: „Es ist ein Koalitionsangebot, das SPD und Grünen ernsthafte Verhandlungen leicht machen müsste. Wer mehr Kompromissbereitschaft verlangt, verlangt entweder, dass die Linke sich in den Staub wirft, oder spielt mit unerfüllbaren Forderungen, weil er oder sie das Reformbündnis schlicht nicht will.
Im ‚Sofortprogramm‘ von Bartsch und Wissler wird die Abweichung von Rot-Grün (13 statt zwölf Euro) zum ‚Vorschlag‘. Aus der kompletten Abschaffung von Hartz IV wird eine Erhöhung der Regelsätze und ein Verzicht auf Sanktionen. Bei der Rente ist der ‚erste Schritt‘ nicht mehr gleich ein kompletter Umbau, sondern eine Erhöhung des Niveaus. Die Abschaffung der Schuldenbremse verwandelt sich – ebenfalls im ‚ersten Schritt‘ – in ‚Spielräume‘ für Investitionen, etwa durch Fonds außerhalb der regulären Etats. (…) Aber da ist ja auch noch die Sache mit der Nato, und nein: So weit wirft sich die Linke verständlicherweise nicht in den Staub, dass sie die Rufe aus der SPD nach einem ‚Bekenntnis‘ zu dem Bündnis erhören würde. Diese symbolischen ‚Bekenntnisse‘ fordert die Sozialdemokratie ja offensichtlich nur deshalb, weil der Vorwurf, die Linke wolle morgen aus der Nato austreten, nicht mehr zieht. Stattdessen sieht der ‚erste Schritt‘ nach Auffassung der Linken so aus: Der Rüstungsetat soll um zehn Milliarden auf das Niveau von 2018 reduziert werden, Auslandseinsätze der Bundeswehr will die Linke ‚auf den Prüfstand stellen‘, mehr nicht, und gestoppt werden sollen keineswegs alle Rüstungsexporte, sondern erst einmal die ‚in Krisengebiete‘.“ Man könnte noch einiges ergänzen: zum Beispiel, dass die zentrale Forderung der seit Jahren kämpfenden Krankenhausbeschäftigten nach einer bedarfsgerechten, gesetzlichen Personalbemessung fehlt …
Wahltaktisches Eigentor
Während DIE LINKE-Führung also deutlich macht, dass sie drei Wochen vor dem Wahltag aufgehört hat, möglichst viele Stimmen für ihr Programm zu mobilisieren und es ihr vor allem darum geht, eine Regierung mit den prokapitalistischen Agenda-Parteien SPD und Grünen zu bilden, reagiert der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert auf allen Kanälen selbstbewusst und rechnet vor, dass eine eigene Mehrheit für SPD und Grüne in greifbare Nähe gerückt ist. Das stimmt. Was wird die Wirkung dieser Tatsache und des Umstands sein, dass DIE LINKE-Führung bei allen Gelegenheiten erklärt, das wichtigste Ziel sei es, CDU/CSU und FDP aus der Regierung herauszuhalten? Genau: diejenigen, die sich von diesem Argument überzeugen lassen, werden sich überlegen, ob sie nicht mit einer Stimme für SPD und Grüne eine Koalition dieser beiden Parteien ermöglichen sollen. Umso mehr, da die Spitzenkandidat*innen beider Parteien in den letzten Tagen sehr deutlich gemacht haben, dass sie sich eine Koalition mit der LINKEN kaum vorstellen können. Selbst die SPD-Linke Saskia Esken attestierte der LINKEN wegen ihrer Enthaltung zum Afghanistan-Einsatz „keine Regierungsfähigkeit“. Das ist auch kein Zufall, denn es gibt aus Sicht der Klasse, die die Führungen von SPD und Grünen in letzter Instanz vertreten – der Klasse der Eigentümer*innen an Produktionsmitteln und großen Aktienpaketen – keinen Grund, in der gegenwärtigen Situation DIE LINKE in die Regierung zu holen. DIE Zeit schreibt dazu: „Für SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz – wie auch für seine Widersacherin von den Grünen, Annalena Baerbock – ist die Linke schlicht nicht regierungsfähig. Das liegt zum einen an jener außenpolitischen Irrlichterei (Nein zur Nato, Distanz zur EU, Nähe zum Russland Putins), die viele Linke als ihren Markenkern verstehen und daher, anders als von Scholz gefordert, nicht zur Disposition stellen werden. Und zum anderen daran, dass in der neuen Bundestagsfraktion der Anteil der Berufsfundamentalisten aus dem Westen steigen dürfte – auf das Abenteuer, mit Unberechenbaren zu regieren, lässt sich ein ultrastoischer Vernunftmensch wie Scholz gar nicht erst ein. Ein Linksbündnis, so erzählen selbst Linke, bräuchte zudem eine satte Mehrheit im Bundestag, um bei Abstimmungen die Abweichler auffangen zu können – die ist nicht in Sicht. Genauso wenig wie eine gemeinsame Erzählung, warum diese Koalition gerade jetzt zwingend nötig wäre. Es fehlen also Fundament, Überbau und Botschaft – mithin alles, was ein Linksbündnis benötigt, um ein Linksbündnis zu sein.“
Das Sofortprogramm ist also ein wahltaktisches Eigentor, ganz abgesehen davon, dass ein Regierungsbündnis mit SPD und Grünen eine freiwilliger politischer Abstieg wäre – das Aufgeben linker Programmatik und des eigentlichen Auftrags einer linken und sozialistischen Partei, der darin besteht eine Alternative zum kapitalistischen System zu propagieren und Menschen dafür zu organisieren und zu aktivieren. Alle Erfahrung mit Regierungsbeteiligungen linker Parteien in Koalitionen mit prokapitalistischen Parteien zeigen das.
Was nötig wäre
Wenn DIE LINKE aus dem sechs-bis-acht-Prozent-Loch rauskommen will, muss sie ihren Gebrauchswert für diejenigen deutlich machen, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Sie muss deutlich machen, dass sie nicht dazu gehört zu dem Politikbetrieb, dem immer weniger Menschen über den Weg trauen. Weil man aber dazugehören will zu dem Club der Regierungsfähigen, frisst man Kreide und reagiert mit einem Relativierungs- und Rechtfertigungsreflex auf jeden Vorwurf zu großer Radikalität.
Afghanistan
Beispiel Abstimmung zum Afghanistan-Einsatz: die Enthaltung der Mehrheit der Linksfraktion war schon ein Signal der Unsicherheit. Dass diejenigen, die diesen Krieg zu verantworten hatten, dieses Votum dazu nutzen würden, der LINKEN vorzuwerfen, sie wolle die Menschen am Kabuler Flughafen nicht retten, war abzusehen. Darauf hätte man offensiv reagieren müssen. Und mit Empörung über die Heuchelei der Bürgerlichen. Zweifelsfrei wäre eine Nein-Stimme vielen Menschen noch schwerer vermittelbar gewesen, als die Enthaltung. Aber sie hätte ein klares Signal ausgesendet, wie auch die Idee, diese Abstimmung zu boykottieren und stattdessen eine Kundgebung gegen Krieg durchzuführen, eine Möglichkeit gewesen wäre, die kompromisslose antimilitaristische Haltung der LINKEN zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig hätte man Forderungen nach Evakuierung, legalen Fluchtwegen und Rettung von Geflüchteten (nicht nur in Afghanistan) unter zivilem Kommando und demokratischer Kontrolle formulieren können, um deutlich zu machen, dass DIE LINKE selbstverständlich nicht gegen die Rettung von bedrohten Menschen ist.
Auftritt bei Anne Will
Beispiel Talkshow Anne Will am vergangenen Sonntag. Da wird Janine Wissler mit ihrer nicht allzu lange zurück liegenden Vergangenheit als Mitglied des Marx21-Netzwerks konfrontiert und Anne Will liest ein langes Zitat aus den Marx21-Grundsätzen vor. Selten wurden wahrscheinlich so viele richtige Dinge über die Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden in dieser Sendung gesagt. Die Co-Vorsitzende der LINKEN aber reagiert nicht selbstbewusst und offensiv. Die Grundsätze der Strömung, zu der sie zwanzig Jahre lang gehörte, sind plötzlich „irgendwelche Internetseiten“. Und ganz besonders betont sie, dass das Vorgetragene nichts mit ihrer Haltung zu einer Regierungskoalition mit SPD und Grünen zu tun habe. Schließlich habe sie selbst in Hessen Sondierungsgespräche geführt und ihre Bereitschaft zur Koalitionsbildung dort unter Beweis gestellt. Wieso hat sie nicht gesagt: „Wissen Sie, Frau Will, dieses Land und diese Welt könnte eine Revolution ganz gut gebrauchen. Das bedeutet ja nichts anderes, als dass die Verhältnisse grundlegend geändert werden. Die Reichtumsverhältnisse, die Machtverhältnisse und ja, auch die Eigentumsverhältnisse, wenn ein paar Dutzend Banken und Großkonzerne die Weltwirtschaft kontrollieren und damit das Leben von Milliarden Menschen bestimmen. Ich habe kein Vertrauen darin, dass SPD und Grüne etwas Grundlegendes verändern wollen. Dazu hatten sie lange und oft genug Gelegenheit. Ich denke, es wird sich nur etwas ändern, wenn die Menschen massenhaft aufstehen, wie in der DDR 1989 oder im Arabischen Frühling oder in Chile im letzten Jahr. Damit die Millionen hart arbeitenden Reinigungskräfte, Busfahrer*innen, Callcenter-Mitarbeiter*innen, Bauarbeiter*innen, Erzieher*innen und Pflegekräfte endlich Löhne bekommen, von denen sie gut leben können, damit die Mieten endlich sinken, damit der Klimawandel gestoppt wird und Rüstung und Kriege beendet werden. All das ist doch Produkt dieses kapitalistischen Systems. Das die Damen und Herren hier nicht darüber reden wollen, ist mir klar. Sie profitieren ja davon. Darum ist es ja so wichtig, dass es DIE LINKE gibt, die bei diesem Spiel nicht mitmacht und die Verhältnisse ändern will.“
Das kann Janine Wissler so nicht sagen, denn mit Blick auf Thüringen, Berlin und Bremen und mit Blick auf das Betteln der Parteiführung um Anerkennung ihrer Regierungsfähigkeit durch Frau Baerbock und Herrn Scholz, würde die Praxis der Partei diesen Aussagen genauso widersprechen wie den Ansprüchen einer sozialistischen Partei. Das genau ist aber das Problem der LINKEN.
Regierung egal?
All das bedeutet nicht, dass DIE LINKE sagen sollte, es sei egal, ob CDU/CSU oder die SPD den nächsten Kanzler stellen (oder die Grünen die Kanzlerin, was aber immer unwahrscheinlicher erscheint). Es ist nachvollziehbar, dass ein Teil der Arbeiter*innenklasse und der Jugend sich einen Wechsel im Bundeskanzler*innenamt und der Regierung wünscht. Auch weil SPD und Grüne im Wahlkampf wieder einmal links blinken und selbst in den Massenmedien deutlich berichtet wird, dass die Steuerkonzepte von CDU/CSU, FDP und AfD die Reichen und Spitzenverdiener*innen entlasten, während die Konzepte von SPD, Grünen und natürlich auch der LINKEN diese stärker belasten und Durchschnitts- und Geringverdiener*innen entlasten würden.
DIE LINKE sollte deshalb deutlich machen, dass ein Regierungswechsel nicht an ihr scheitern würde. Im dritten Wahlgang reicht bei der Kanzler*innenwahl eine relative Mehrheit. Die könnten die Abgeordneten der Linksfraktion durch eine Enthaltung oder sogar begrenzte Für-Stimmen, sollten diese nötig sein, ermöglichen und gleichzeitig erklären, dass sie jede Maßnahme einer rot-grünen Minderheitsregierung im Interesse der Arbeiter*innenklasse und sozial Benachteiligten, des Klimaschutzes, jedes Gesetz zur Abrüstung und Entmilitarisierung und Ausweitung von demokratischen Rechten mittragen wird. Dass sie aber nicht bereit ist, sich in einer Koalition oder durch einen Tolerierungsvertrag an eine solche Regierung zu ketten, weil alle Erfahrungen mit SPD und Grünen zeigen, dass diese Parteien letztlich arbeiter*innenfeindliche Politik betreiben. Eine solche Politik der Einzelfallentscheidung im Falle einer rot-grünen Minderheitsregierung macht deutlich, dass ein Regierungs- und Politikwechsel nicht an der LINKEN scheitern würde. Würde die Führung der LINKEN diesen Vorschlag offensiv propagieren und mit einer Kampagne für ihre eigenen zentralen Forderungen begleiten, könnte sie sowohl zwischen SPD/Grünen und der LINKEN schwankende Wähler*innen, als auch bisherige Nichtwähler*innen erreichen und mobilisieren. Letztere sind entscheidend dafür, dass DIE LINKE bessere Wahlergebnisse erzielt.
In diesem Sinne sollten alle Mitglieder und Unterstützer*innen der Partei gemeinsam mit der Antikapitalistischen Linken (AKL) und anderen Sozialist*innen in der Partei darum kämpfen, dass DIE LINKE einen kämpferischen, unangepassten und sozialistischen Kurs einschlägt. Und dafür, dass die unsägliche Praxis von Partei- und Fraktionsvorsitzenden an den demokratisch gewählten Gremien der Partei vorbei Fakten in entscheidenden Fragen zu schaffen, endlich ein Ende hat. Der Parteivorstand, der ja seit seiner Neuwahl als „linker“ Vorstand gilt, sollte seine beiden Vorsitzenden und die Fraktionsvorsitzenden zur Ordnung rufen und beschließen, dass diese Methode beendet wird.
Sascha Staničić ist Sol-Bundessprecher und Parteitagsdelegierter für die AKL