EU-Geopolitik – in wessen Interesse?

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Von Klaus Dräger

Artikel aus der „aufmüpfig“ Herbst 2023

Zu ihrem Amtsantritt als Präsidentin der EU-Kommission 2019 erklärte Ursula von der Leyen, sie wolle eine ‚geopolitische Kommission‘ schaffen: „Vor uns liegen enorme Aufgaben: Brexit, Klimawandel, 5G-Ausbau, der wachsende Protektionismus und die Reform des europäischen Asylsystems – um nur einige zu nennen. Um diese Umbrüche zu schaffen, muss Europa geeint auftreten und sich global stärker behaupten.“1 Ihr Ziel sei, eine ‚strategische Souveränität‘ der EU auf Augenhöhe mit den USA, China und Russland zu erreichen.


Nicht erst seitdem Ukraine-Krieg im Februar 2022 überboten sich die EU-Granden mit Reden und Stichworten zum Thema Geopolitik: geopolitische EU, es wurden auch ‚geopolitische Subventionen‘ angekündigt. Auch zur ‚Industriepolitik‘ – was früher eine Sache der Nationalstaaten der EU war (und auch immer noch ist).

In Ihrer letzten Rede als Kommissionspräsidentin zur Lage der Europäischen Union (State of the Union Adress) am 13. September 2023 vor dem EP in Straßburg sprach Ursula von der Leyen wieder blumig die gleichen Themen an wie 2019 bei ihrem Amtsantritt. Sie kündigte an, dass der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi damit beauftragt wurde, einen Bericht zur ‚Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU‘ zu liefern. Das verheißt für die lohnabhängige Bevölkerung wohl nichts Gutes, und insgesamt auch nicht.

Die Gretchenfrage wegen Geopolitik: Ist die EU in der Lage, zu einer Weltmacht auf dem Niveau von USA und China aufzusteigen? Oder ist das bloßes Wunschdenken ihres Führungspersonals? Zu diesen und anderen Fragen versuche ich nachfolgend einen groben Überblick zu geben.

EU-Global Gateway – Alternative zu Chinas Projekt einer ‚Neuen Seidenstraße‘?

Die 2021 gestartete EU Global Gateway Initiative (Europas ‚Tor zur Welt‘) soll Chinas Neuer Seidenstraße Konkurrenz machen. Es geht der EU (unterstützt auch durch die G7-Staaten) darum, Chinas (und auch Russlands) wachsenden Einfluss bei aufsteigenden Schwellenländern und anderen des Globalen Südens streitig zu machen. Zwischen 2021 und 2027 sollen rund 300 Milliarden Euro in den Bereichen Digitales, Energie und Verkehr, Gesundheits-, Bildungs- und Forschungssystemen dafür bereitgestellt werden. Geplant sind unter anderem Investitionen in neue Bahnlinien und Straßen, eine neue Unterwasserkabelverbindung zum Datentransport zwischen der EU und Lateinamerika und der Einsatz von grünem Wasserstoff. Allerdings: die angekündigten 300 Mrd. Euro dafür wurden im Wesentlichen aus bereits bestehenden EU-Fonds für Entwicklungshilfe, Nachbarschaftspolitik etc. umgeschichtet – und so ‚gebündelt‘ als bahnbrechende neue Initiative der EU verkauft. Wie so oft bei der EU-Propaganda – gibt es kaum ‚frisches Geld‘ dafür. Chinas seit langem verfolgtes Projekt für die ‚Neue Seidenstraße‘ beläuft sich hingegen inzwischen auf rund 2.500 Mrd. Dollar in Projekte auf der ganzen Welt. Die EU-Initiative (und auch die unterstützenden G7-Partner des globalen Westens) können da nicht mithalten. Erst recht nicht, seit diverse Staaten des ‚Globalen Südens‘ sich hinter dem Projekt ‚BRICS+‘ versammeln. Und dieses nimmt Fahrt auf.

Zum EU Global Gateway Projekt kommentierten die Stuttgarter Nachrichten (StN vom 26.01.2023) sehr früh sarkastisch: „Auch in der EU-Kommission selbst scheinen die Verantwortlichen mit dem Verlauf eher unzufrieden zu sein. Vor einigen Monaten wurde deshalb in Brüssel ein Treffen mit mehreren Hundert Teilnehmern organisiert. (…) Sichtbares Ergebnis war eine Hochglanzbroschüre, in der im November mehrere Initiativen vorgestellt wurden. So etwa Produktionsanlagen für grünen Wasserstoff in Namibia und Kasachstan oder ein schwimmendes Solarkraftwerk in Albanien. Das Problem: alle Projekte existieren bisher nur auf dem Papier.“

EU – China: weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit oder Bruch?

Noch in 2020 wollte die EU auf Druck von Angela Merkel ein Handels- und Investitionsabkommen mit China (Comprehensive Agreement on Investment, CAI) abschließen – dass wegen der Corona-Pandemie nicht zu Ende verhandelt werden konnte. Bekannt ist, dass insbesondere das deutsche Kapital in China stark investiert ist und Deutschland der größte Exporteur von Waren (insbesondere Investitionsgüter wie Maschinenbau usw.) nach China ist. Umgekehrt ist die EU für China der größte Handelspartner und Exportmarkt.

Die US-Regierungen (Obama, Trump) ergriffen hingegen schon früh Maßnahmen, um die US-Ökonomie von China zu entkoppeln (de-coupling). Ihnen ging es stets darum, den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas mit ökonomischen und militärischen Strategien zu verhindern. Biden fordert seit einiger Zeit ‚präventive Wirtschaftssanktionen‘ des globalen Westens gegen China. Um verschärfte US-Sanktionen gegen China zu umgehen, überlegen deutsche Unternehmen, ihre Niederlassungen in China in lokale (‚chinesische‘) Unternehmen umzuwandeln. Brüssel und Berlin wollen vorsorglich die wirtschaftliche Verflechtung mit China verringern, um für eine weitere Eskalation des USA-China-Konflikts gewappnet zu sein.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen verschärfte ihre Anti-China-Rhetorik und suchte dabei weitgehend den Schulterschluss mit Biden. Zwar solle die EU sich wirtschaftlich nicht vollständig von China abkoppeln, aber in Bezug auf ‚strategische‘ Güter und Dienstleistungen einseitige Abhängigkeiten vom Reich der Mitte drastisch abbauen (de-risking). Frankreichs Präsident Macron hingegen plädierte für eine eigenständige auf Ausgleich bedachte China-Politik der EU – unabhängig von den USA. Bei seinem Staatsbesuch in China (gemeinsam mit von der Leyen) vor Ostern 2023 wurden rund 50 Wirtschaftsprojekte französischer Firmen mit China abgeschlossen. Danach hagelte es scharfe Kritik von Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU und der SPD an diesem Kurs von Macron. Das so oft beschworene deutsch-französische Tandem ist schon länger beschädigt. Die Widersprüche innerhalb der EU zur China-Politik liegen nun offen zu Tage.

Wettlauf um Ressourcen und neue Märkte

Bundeskanzler Olaf Scholz drängt seit einiger Zeit die Regierungen lateinamerikanischer Staaten, endlich das seit rund 20 Jahren verhandelte EU-Mercosur-Abkommen abzuschließen. Mit dem Mercosur-Abkommen würden europäische Konzerne innerhalb von 10 Jahren Zugang zu einem Markt mit 265 Millionen Menschen erhalten, in dem 90 Prozent der Zollschranken schrittweise abgebaut würden. Es wäre die größte Freihandelszone der Welt. Aus Sicht deutscher Unternehmen könne dies helfen, die durch die gemeinsame westliche Sanktionspolitik gegenüber Russland dort rückläufigen Geschäftsmöglichkeiten mehr als auszugleichen.

Die deutschen und europäischen Grünen stehen dabei vor einem Problem. Früher hatten sie stets das Mercosur-Abkommen abgelehnt – weil es keine Sicherungen gegen die Abholzung des Regenwalds, den Anbau von Gen-Soja, den Export von billigem Rindfleisch, den Rückbau der Extraktionsökonomie (Gold und andere Rohstoffe) vorsieht.

Die deutschen Grünen setzen deshalb auf Verhandlungen über ein klimaschützendes Zusatzabkommen mit Brasiliens Präsident Lula da Silva. Um dies auszuloten wurden Agrarminister Cem Özdemir und Wirtschaftsminister Robert Habeck auf Mission nach Lateinamerika geschickt. Die Bundesregierung versprach Hilfen für den Erhalt des Regenwalds und auch für den Kohleausstieg in Kolumbien. Im brasilianischen Amazonas begrüßte Habeck eine Versammlung indigener Gemeinschaften: „Ich bin Robert, das ist Cem, und wir sind Minister in der deutschen Regierung – das ist so etwas wie euer Häuptling (chief), aber in einem anderen Land“. Zur von den Grünen zuhause gepflegten ‚wokeness‘ passt Habecks Ansprache an die Indigenen wohl nicht. Eher: grün verbrämter Neo-Kolonialismus.

Mit der Zuspitzung des Ukraine-Kriegs, der westlichen Sanktionspolitik und deren globalen

Folgen versucht insbesondere die deutsche Ampel-Regierung, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Ländern auf der Welt zu diversifizieren. Einseitige Abhängigkeiten seien zu vermeiden. Es geht ihr dabei stets um den Zugriff auf Rohstoffe (z.B. seltene Erden, Lithium für Elektroauto-Batterien usw.), die Versorgung mit ‚grünen Wasserstoff‘ und vieles mehr. Dazu wird z.B. mit Ländern wie Brasilien, Kolumbien, Chile, Argentinien in Lateinamerika, aber auch z.B. mit Marokko intensiv verhandelt. Sie möchte auch mit Indien, Indonesien und südostasiatischen Ländern (z.B. Vietnam, Indonesien, Philippinen usw.) stärker ins Geschäft kommen, um dort als Gegengewicht zu China einen Fuß in die Tür zu bekommen. Dabei geht es im Wesentlichen um bilaterale Verhandlungen. Von deutschen Konsortien geführte Projekte werden angeboten und gepuscht – in Konkurrenz mit jenen aus anderen EU-Staaten (z.B. Frankreich, Spanien, Italien). Dieses Muster ist aus der deutschen Einkaufstour seit dem Ukraine-Krieg bekannt, um russisches Gas durch welches aus anderen Quellen (USA, Katar, Norwegen) zu ersetzen. Es geht stets darum, dass ‚Deutschland‘ sich den Löwenanteil an Ressourcen, Energie und Geschäftsmöglichkeiten sichert. Bislang gibt es für diese Strategie keine durchschlagenden Erfolge – weder für die EU, noch für Deutschland. Der bekannte neoliberale Standortwettbewerb zwischen nationalstaatlichen Regierungen im Interesse des jeweiligen heimischen Kapitals – er prägt auch weiterhin die EU. Eben: Jeder gegen Jeden’.

Geopolitische Subventionen‘ der EU gegen Bidens IRA?

Die EU macht sich große Sorgen wegen des ‚Inflation Reduction Act‘ (IRA) der USA. Dies ist ein Investitionsprogramm mit einem Volumen von 374 Mrd. US Dollar, die in die Förderung von Elektromobilität, Klimaschutz und ‚Zukunftsbranchen‘ fließen sollen. Die in dem Gesetz gewährten Subventionen und Gutschriften sind an inländische Lieferklauseln gebunden – Produkte und Dienstleistungen ‚made in USA‘. Die EU befürchtet, dass europäische Unternehmen wegen dieser IRA-Subventionen ihr Geschäft in die USA verlagern. Es drohe ein Exodus der ‚grünen‘ Technologiebranchen, der Hersteller von Elektroautos, sogar eine De-Industrialisierung Europas. Dies würde die Pläne für einen ‚EU Green Deal‘ massiv beschädigen.

Es gab mehrere Verhandlungsrunden (Macron, Scholz, von der Leyen) dazu mit Biden, und eine Annäherung der Standpunkte. Beim IRA wurde aber der größte Streitpunkt ausgeklammert – die Gleichstellung der EU mit anderen Handelspartnern. Somit dürften US-Subventionen weiter nur an jene Unternehmen gehen, die sich in den USA ansiedeln.

Am 1. Februar 2023 legte die EU-Kommission mit ihrem „Green Deal Industrieplan“ eine ‚europäische Antwort‘ auf den IRA vor. Unter anderem schlägt sie ‚geopolitische Subventionen‘ vor. Mit diesen sollen entsprechende Unternehmen dazu überredet werden, weiter innerhalb der EU zu investieren und dort zu bleiben. ’Industriepolitik’ war zuvor eine Ägide der EU-Nationalstaaten (und wird es im Wesentlichen auch weiter bleiben). Die EU als solche hat hier eigentlich keine Kompetenzen.

Ansonsten: für diese ‚geopolitischen Subventionen‘ gibt es zunächst kein frisches Geld von der EU. Dafür wurden die ‚Beihilfe-Regelungen‘ der EU abgeschwächt – bis 2024, dann soll es wie gewohnt mit den üblichen ‚Binnenmarkt-Regeln‘ weiter gehen und der EU-Stabilitätspakt und Fiskalpakt (‚Schuldenbremse‘, Defizitregeln, Austeritätskurs) wieder angewendet werden. Das ‚timing‘ dazu ist weiterhin umstritten – die generelle Richtung zu neuer Austeritätspolitik aber nicht.

Bis Anfang 2024 dürften die Mitgliedstaaten weiterhin hohe Beträge an Beihilfen ausgeben, wenn Unternehmen ansonsten außerhalb der EU investieren würden. Sie dürften unter Auflagen den gleichen Betrag bereitstellen, den das Unternehmen außerhalb der EU an Staatshilfe bekäme. Frankreich und Deutschland könnten sich diese Subventionen leisten – kleinere EU-Länder aber nicht. Diskutiert wird auch, einen neuen und möglicherweise kreditfinanzierten „Souveränitätsfonds“ zu schaffen, um Finanzmittel für den Green Deal Industrieplan zu mobilisieren. Diese Vorschläge der Kommission sind in der EU umstritten.

Eine sehr kritische und ausführliche Analyse des ‚EU Green Deal Industrial Plans’ (GDIP) gibt es auf der deutschen Website von Jacobin. Das Fazit von Alexandra Gerasimcikova

Das wohl wahrscheinlichste Ergebnis des GDIP ist ein monopolisierter Markt für erneuerbare Energien und ein beschleunigter oligopolistischer Wettlauf im Bereich der sauberen Technologien. Der Plan konzentriert sich auf Produkte wie Batterien, Solarenergie, Windkraftanlagen, Biokraftstoffe und Wasserstoff- oder Kohlenstoffabscheidungs- und Speicherungstechnologien, die ineffizient, kostspielig und im großen Maßstab unrealistisch sind, darüber hinaus schädliche soziale und ökologische Auswirkungen haben, sich aber gut für die Steigerung der Profite großer Unternehmen eignen. Und es sind die größten Unternehmen des Energiesektors, einschließlich der Produzenten fossiler Brennstoffe – die fünf größten haben im Jahr 2022 Rekordgewinne von 195 Milliarden US-Dollar erzielt –, die von den Regierungen weiterhin staatliche Beihilfen für den Ausbau des Wasserstoffmarktes und der Kohlenstoffabscheidung fordern werden, während sie ihre ohnehin schon dürftigen Zusagen für erneuerbare Energien langsam aufweichen.


Der DGB hingegen unterstützt sowohl Bidens IRA als auch die Initiative der EU-Kommission. Er warnt vor einem Subventionswettlauf zwischen den großen Wirtschaftsblöcken und einem gegenseitigen Abwerben von international mobilen Konzernen und Investoren. Bei der nötigen Transformation zur Klimaneutralität seien internationale Vereinbarungen zwischen großen Wirtschaftsräumen (USA, EU, China usw.) nötig, um ein solches Szenario zu verhindern. Ein solches kooperatives Vorgehen wäre wünschenswert – aber ist es auch realistisch angesichts des normalen ‚kapitalistischen Wettbewerbs‘ auf dem Weltmarkt und erst recht wegen der verschärften geopolitischen Rivalität und Konfrontation? Vielleicht kommt ja die Zeit, wo das Wünschen wieder hilft (Die Toten Hosen) – aber so schnell wohl nicht.

EU-Coronafonds – viel Moos, aber nix los …

Der von den Medien so bezeichnete EU-Corona-Fonds wurde in 2021 letztlich auch vom EU-Parlament bewilligt und trat danach in Kraft. Erinnern wir uns an den Hype: die EU-Kommission nahm Schulden auf (700 Mrd. Euro), um den Mitgliedstaaten zu helfen, dem Wirtschaftseinbruch wg. der Corona-Krise & Lockdowns entgegen zu wirken.

Diese Maßnahme war unter den Mitgliedstaaten zuvor sehr umstritten – es brauchte einige Zeit, sich dazu auf einen Kompromiss zu einigen.
Kernstück des Pakets ist der EU-Wiederaufbaufonds (
Recovery and Resilience Facility, RRF). Bis 2024 soll er 312,5 Milliarden Euro an Zuschüssen bereitstellen, die andere Hälfte des Fonds sollen als Kredite vergeben werden. Hinzu kommen damit verbundene normale EU-Programme. Das Paket insgesamt wurde als ‚Next Generation EU‘ bezeichnet. Ziel: Green Deal, Digitalisierung, Modernisierung usw. unterstützen.


Die Mitgliedstaaten sollen dazu jährlich nationale Wiederaufbaupläne vorlegen, die von der Kommission geprüft und vom Rat mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden. Die Länder sollen Zahlungen daraus erhalten, sofern sie Fortschritte gemäß der EU-Ziele (meist neoliberale ‚Strukturreformen‘) glaubhaft belegen können. Auch hier gelten die überwiegend neoliberal orientierten Bedingungen (Konditionalität) gemäß dem ‚Europäischen Semester‘.


Im Juli 2021 wurden von der Kommission die ersten Genehmigungen für 12 Mitgliedstaaten erteilt, und die Auszahlung der ersten Tranchen der Gelder vom ‚Corona-Fonds‘ konnte beginnen. Allerdings: eine Zwischenbilanz zeigt sehr deutlich, dass ‚Next Generation EU‘- Gelder sehr unterschiedlich in Anspruch genommen wurden. Bis Juli 2023 sind nur 153 von rund 700 Milliarden Euro an die Mitgliedstaaten geflossen. Es sind die reicheren EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden etc.), die die ihnen eigentlich zustehenden Zuschüsse/Kredite aus dem Fonds nicht in Anspruch nehmen. Weil die wirtschaftlich (noch) potenteren EU-Staaten eigene nationale Programme zur Krisenbekämpfung aufgelegt haben (z.B. in Deutschland: Olaf Scholz’ ‚Doppelwums‘, das geplante ‚Wachstumschancengesetz‘ usw.), die wie immer in Konkurrenz zueinanderstehen.


Auch der EU-Süden ist vorsichtig.
Herman Michiel (Herausgeber der flämisch-sprachigen belgischen Website ‚Ander Europa‘) zeigt das am Beispiel von Italien: „Nehmen wir Italien, das Anspruch auf 69 Mrd. in Form von Zuschüssen und 122 Mrd. als Kredite hat. Um fast 200 Milliarden € sinnvoll ausgeben zu können, sind ernsthafte Vorstudien erforderlich. Allerdings müssen alle Projekte bis Ende dieses Jahres formuliert sein, um das Geld in den nächsten drei Jahren zu erhalten. Einige Politiker haben daher mehr Zeit gefordert, aber die Kommission scheint dafür kein Ohr zu haben.“


So ist das mit ‚Next Generation EU‘ – diejenigen EU-Staaten, die die EU-Gelder wirklich brauchen – kommen wegen der kurzen Frist für die Einreichung von Projekten nicht so leicht daran.

Strategische Souveränität?

Während der Trump-Ära setzte sich die EU das Ziel, eine eigenständige wirtschaftliche und militärische Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA, China und Russland zu werden. Macron und von der Leyen kündigten an, eine ‚Europäische Armee‘ schaffen zu wollen. Die EU ist schon länger eine Aufrüstungsunion. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich, ihre Militärhaushalte regelmäßig zu erhöhen, in die Rüstungsforschung zu investieren und mehr und moderneres ‚Gerät‘ zu beschaffen. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) sollten die militärischen Fähigkeiten der daran teilnehmenden EU-Staaten stärker gebündelt und mit dem Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) zusätzliche Investitionen im Rüstungssektor angeschoben werden. Die Umsetzung dieser Pläne verlief eher schleppend.

Mit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die Lage der EU dramatisch verändert.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell deutete die vorherige EU-Vision radikal um. Die ‚geopolitische Kommission‘ hat laut ihm jetzt das Ziel, die ‚strategische Souveränität‘ der Nato und des Westens insgesamt zu stärken – nicht die einer eigenständigen EU. Die EU folgt blindlings der Nato und der Strategie von US-Präsident Joe Biden. Auch Frankreichs Präsident Macron reiht sich in punkto Ukrainekrieg nahtlos ein – früher hatte er die Nato als ‚hirntot‘ kritisiert. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland wird mit immer weiteren Sanktionspaketen von EU und USA ausgeweitet. Massive Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine finden nun statt, um dieser einen Sieg auf dem Schlachtfeld und die Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete zu ermöglichen. Außerdem sollen mehrere hundert Millionen für die Beschleunigung der europäischen Munitionsproduktion locker gemacht werden, wodurch Brüssel nun auch voll beim Aufbau einer Kriegswirtschaft mitmischt.

Offensichtlich ist: die eigenständige Steuerungs- und Handlungsfähigkeit der EU nimmt immer weiter ab. Sie agiert zunehmend als ergebener Vasall des US-Imperiums. Der Ukraine wurde hastig der Status eines EU-Beitrittskandidaten zugestanden. Bundeskanzler Olaf Scholz und Kommissionspräsidentin von der Leyen plädieren dafür, die Staaten des Westbalkans sowie die Ukraine, Moldau und Georgien zügig in die EU aufzunehmen. Dieses Projekt ‚Groß-Europa‘ deckt sich mit der bekannten Strategie der NATO zu ihrer Osterweiterung. Das US-Magazin Foreign Policy spekuliert aber bereits über eine Föderation von Polen mit der Ukraine: “Die polnisch-ukrainische Union würde zum zweitgrößten Land in der EU und wahrscheinlich zu ihrer größten Militärmacht werden und damit ein mehr als ausreichendes Gegengewicht zum deutsch-französischen Tandem bilden“.2

Es ist ohnehin deutlich, dass die polnische Regierung gemeinsam mit einigen osteuropäischen und skandinavischen Partnern in der Außenpolitik strikt den USA folgt – und diese mit ihren Forderungen nach Lieferung von Kampfjets, neuen Raketen usw. an die Ukraine erfolgreich unter Druck setzte. Biden nützt dies sehr, um den Rest der EU vor sich herzutreiben und das schon brüchige deutsch-französische Tandem zu schwächen. Dies erinnert an die Strategie von U.S. Präsident G. W. Bush im zweiten Irak-Krieg: ‚New Europe‘ (EU-Osteuropa) in seiner Koalition der Willigen gegen ‚Old Europe‘ (Frankreich, Deutschland, Benelux) in Stellung zu bringen. Mit einem EU-Beitritt der Ukraine, Moldau und Georgien würden die Kräfte innerhalb einer erweiterten EU gestärkt, die die U.S. Dominanz über Europa weiter zementieren. Scholz’ offensichtliches Kalkül, dass Deutschland als Mittler zwischen einem geschwächten Frankreich und einem aufsteigenden Polen/Osteuropa seine Dominanz in der EU sichern könne – dies ist aus meiner Sicht auf Sand gebaut.

Fazit

Der US-amerikanische Ökonom Thomas Palley lieferte in einer Studie zur Dollarhegemonie3 auch eine bemerkenswerte Analyse zur ‚geopolitischen Inkohärenz der EU‘. Einige Auszüge davon (Übersetzung KD):

Man kann also argumentieren, dass der Euro (und die Europäische Union) unter einer Überdehnung leidet, die mittel- und osteuropäische Staaten eingemeindet hat, die politisch fremd sind und divergierende politische Interessen haben. Außerdem hat sich Europa dazu entschlossen, in Bezug auf Geopolitik und Konflikte die Rolle des Mitläufers der USA zu spielen. (…)

Das hat sich im Ukraine-Konflikt deutlich gezeigt, unter dem Europa enorm gelitten hat, während die USA ein geopolitischer Nettonutznießer waren. Europa hat enorme wirtschaftliche Kosten in Form von Störungen und Unterbrechungen der Energieversorgung, Inflation und Verlust des riesigen russischen Exportmarktes für Luxus- und Investitionsgüter. Im Gegensatz dazu haben die USA neue Energiemärkte in Europa erschlossen, Europa in eine noch stärkere Unterwerfung unter das US-Militär verwickelt und permanent verschärfte Spannungen mit Russland geschaffen, die den USA geopolitisch zugutekommen.“

Darunter leidet am meisten die deutsche Volkswirtschaft: Wegen des doppelten Effekts von hohen Energiepreisen und dem Abwerben von Unternehmen durch Bidens IRA. Als einziges EU-Land ist Deutschland in eine vorerst leichte Rezession geschlittert (- 0.3 Prozent des BIP). Dazu gibt es die üblichen Vorschläge wegen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit = beginnender Sozialabbau.


Die von der Bundesregierung vorangetriebenen scharfen Wirtschaftssanktionen gegen Russland wirkten nicht und kommen nun als Bumerang zurück. Die Russische Ökonomie wurde d
adurch nicht so getroffen, wie vom globalen Westen erhofft: „Demnach wächst die russische Wirtschaft dieses Jahr um 1,5 Prozent – und damit um 0,8 Prozentpunkte mehr als noch im April angenommen. Für das Jahr 2024 erwartet der IWF zudem ein Wachstum von 1,3 Prozent.“ Das gab auch Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen zu: „Eigentlich hätten wirtschaftliche Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen … Das ist aber nicht so. Weil eben die Logiken von Demokratien nicht in Autokratien greifen.“

Sowas kommt von sowas – Palley hat Recht. Die Ampel-Regierung und die EU mit ihr haben sich mit ihrem Kurs selbst ins Knie geschossen und damit eine große (auch globale) Misere zu verantworten.

Zum Autor

Klaus Dräger, ehemals Fraktionsmitarbeiter der Linksfraktion im EP (GUE/NGL) für Beschäftigung & Soziales, jetzt im Ruhestand. Dieser Beitrag basiert auf einem früheren Artikel, der in der Zeitschrift Z (Nr. 134) erschienen ist.

Als Mitglied des Beirats der Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Z) etwas Werbung in eigener Sache: zu den hier angesprochenen Themen empfehle ich insbesondere Z 134 (Wessen Weltordnung? Globale Kräftverschiebungen) und Z 135 (Rüstungspolitik und MIK: EU und USA) mit m.E. sehr lesenswerten Beiträgen.

1Zitat nach ‚Auswärtiges Amt‘ – Startschuss für eine geopolitische EU-Kommission, 3.12.2019; https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/europa/aussenpolitik-europa-eu-kommission-/2284150

2Zitiert nach Polskie Radio; 27.03.2023; https://www.polskieradio.pl/400/7764/artykul/3141321,usmagazin-spekuliert-

3Thomas Palley: Theorizing dollar hegemony …; August 2022; https://www.postkeynesian.net/downloads/working-papers/PKWP2220_v2.pdf