Geschönte Fassade – marode Substanz

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Zur Sozial- und Beschäftigungspolitik in der EU

von Jürgen Aust

Während die herrschenden Medien relativ regelmäßig über die menschenverachtende Migrations- und Flüchtlingspolitik in der EU berichten, allerdings nicht, um die herrschende Politik anzuklagen, sondern um sog. Schlepperbanden für das Massensterben im Mittelmeer verantwortlich zu machen, müssen wir Berichte über ähnlich menschenunwürdige Verhältnisse in anderen Politikfeldern nahezu mit der Lupe suchen. Die Anpassung an die herrschenden Machtverhältnisse verhindert in den meisten Redaktionen, die EU auf die Anklagebank zu stellen, wenn es um den dasaströsen Abbau von sozialen Standards oder sklavenartige Arbeitsverhältnisse wie u.a. bei den Ernte- und Saisonarbeiter*innen in Italien oder Spanien geht, den Armutsverhältnissen in den Ländern, die im Rahmen der „Osterweiterung“ EU-Mitglieder wurden oder die, wie z.B. in Griechenland unter dem Diktat der Troika zu nahezu 30 % der Einwohner*innen von einer Krankenversicherung abgeschnitten wurden.

Europa als der Garten Eden

Doch die hochbezahlten Vertreter der EU bzw. der EU-Kommission, wie z.B. Josep Borell, zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik, haben den Auftrag, sich gegen diese monströsen Verhältnisse nahezu zu immunisieren und die höchst prekären Verhältnisse bei Auftritten vor der Öffentlichkeit schönzureden: „Europa ist ein Garten, in dem alles funktioniert. Es ist die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt, die die Menschheit je aufbauen konnte….Der größte Teil der übrigen Welt ist ein Dschungel. Und der Dschungel könnte in den Garten einfallen. Und die Gärtner sollten sich darum kümmern.“

Um diesen „Garten Eden“ u.a. am Beispiel der Austeritätspolitik der Troika etwas näher zu beleuchten, die 2015 mit einer erpresserischen Politik die griechische Regierung zu dramatischen Sozialkürzungen zwang, seien die Folgen im Bereich des Gesundheitswesens benannt:

„Besonders dramatisch sind die Auswirkungen der Vorgaben der Troika im Gesundheitssektor, die neben Kürzungen die Privatisierung des gesamten Bereichs vorsahen. Der ehemalige Gesundheitsminister Andreas Loverdos hat zugegeben, dass die Regierung zu ihrer Erfüllung „Schlachtermesser“ benutzt hat. Die Zahlen sprechen für sich: Von 183 Krankenhäusern im Land sind seit Beginn der Krise etwa 100 geschlossen worden, rund 35.000 Klinikstellen fielen dabei weg. Die 350 Polykliniken, mit denen bislang die ambulante Grundversorgung sichergestellt wurde, wurden komplett geschlossen. Im Gesundheitssystem sind insgesamt 26.000 Stellen abgebaut worden, davon 9.100 Stellen von Ärzten. Da viele Krankenhäuser ihre Lieferanten nicht oder nur verspätet bezahlen, kommt es immer wieder zu Engpässen bei Medikamenten und medizinischen Gütern, so fehlen mitunter selbst einfachste Dinge wie Handschuhe, Desinfektions- oder Schmerzmittel. Viele Krankenhäuser verschieben Behandlungen in die Zukunft und nehmen nur noch die allernotwendigsten chirurgischen Eingriffe vor, weil ihr Budget erschöpft ist. Allein 2011 gab es eine Kürzung von 60 % des Budgets für die laufenden Betriebskosten des öffentlichen Gesundheitswesens, sodass die Angehörigen von Patienten selbst Kanülen oder Verbandsmaterial zur Verfügung stellen und bei der Behandlung mithelfen müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Rede von einer Reform des Gesundheitswesens, bei dem übrigens Experten des Bundesministeriums für Gesundheit federführend waren, schlicht irreführend“ (Gregor Kristidis „Kein Ende des Ausnahmezustands“):  

https://www.sopos.org/aufsaetze/556ecf153d092/1.phtml.html

Auch in Italien wird insbesondere im Arbeitssektor diese Art von menschenverachtender Politik u.a. an den Jahr für Jahr auf den riesigen Erntefeldern in der Landwirtschaft arbeitenden Arbeitssklaven exekutiert. Dazu ein Artikel im ND v. 03.01.2021: 

„Die Landarbeitergewerkschaft FLAI Cgil hat kürzlich eine Untersuchung durchgeführt, die erschreckende Zahlen ans Licht gebracht hat. 39 Prozent aller Landarbeiter haben demnach keine regulären Arbeitsverträge; über 300 000 Personen (zum größten Teil Bulgaren, Rumänen, Afrikaner und Inder) werden offiziell für weniger als 50 Tage im Jahr angestellt und erhalten einen Tageslohn zwischen 20 und 30 Euro für bis zu 12 Stunden harter Arbeit. In einigen Fällen wurden auch Löhne von nur 1,50 Euro pro Stunde verzeichnet. Die Frauen erhalten noch einmal 20 Prozent weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen. Es handelt sich um ein komplexes Ausbeutungssystem, das von der Anwerbung bis in die Supermärkte reicht und in Italien »Agromafia« genannt wird. Deren Profit betrug 2018, so das Forschungsinstitut Eurispes, 24,5 Milliarden Euro. Diese Milliarden werden buchstäblich auf dem Rücken von Hunderttausenden von »unsichtbaren« Landarbeitern und Landarbeiterinnen »erwirtschaftet«:

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146516.landarbeiter-in-italien-moderne-sklaverei-in-italien.html

Die Europäische Kommission „bekämpft“ derartige Verhältnisse mit wohlfeilen Erklärungen bzw. Richtlinien wie u.a. „Die Europäische Säule Sozialer Rechte“, die keinerlei Rechtsansprüche enthalten, sondern ausschließlich deklaratorischer Natur sind (file:///C:/Users/juerg/Downloads/KE-01-18-212-DE-N.pdf). Keines der EU-Länder hat sich in der Folgezeit an diesen Grundsätzen in seiner Arbeits- und Sozialpolitik orientiert, vielmehr haben sie auf zahlreichen Politikfeldern soziale Standards abgebaut wie in Frankreich mit der sog. „Rentenreform“, in Italien vor wenigen Wochen mit der Abschaffung sozialrechtlicher Leistungsansprüche im Falle von Arbeitslosigkeit und Armut oder in Deutschland als dem „Vorgezeigeland“ für eine fortschrittliche Sozialpolitik mit einer drastischen Kürzung von Sozialleistungen im Rahmen der aktuell vorgestellten Haushaltsplanung für 2024. Es lohnt sich, zur besseren Beurteilung einer „wertebasierten“ Politik à la Baerbock sich einige dieser Maßnahmen näher anzuschauen:

* das „Jahrhundertprojekt“ der Ampelregierung, die sog. „Kindergrundsicherung“ würde lt. Familienministerin Paus (Grüne) einen Finanzbedarf von ca. 12,5 Mrd. € erfordern, die auf Veranlassung des Porsche-Ministers Lindner auf völlig unzureichende 2,6 Mrd. € zusammengestrichen wurden und an den langjährig kritisierten Armutsverhältnissen von Kindern nichts substantiell ändern würden

* die von Anfang an verlogene Parole „Wir werden Hartz IV abschaffen“ (so die ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles) endete mit der „Bürgergeld-Reform“ als Rohrkrepierer: das seit Jahren von nahezu allen Sozialverbänden massiv kritisierte Sanktions-System wurde in einer leicht abgeänderten Form beibehalten. Die völlig unzureichenden Regelsätze wurden zwar geringfügig erhöht, allerdings deckte die Erhöhung noch nicht einmal die Inflation ab, die insbesondere die Lebensverhältnisse der von Armut betroffenen Menschen massiv einschränkten

* mit Beginn der Pandemie erfolgten in Deutschland nicht nur Massenentlassungen (u.a. wurden ca. 825.000 Minijobs abgebaut), sondern die eingeführte „Kurzarbeit“ führte bei Millionen von Beschäftigten zu massiven Einkommensverlusten. Während in einigen wenigen Ländern (z.B. Dänemark, Niederlande oder Norwegen) das Kurzarbeiter*innen-Geld 90% bis 100% des letzten Nettolohnes entsprach, wurden in Deutschland die von Kurzarbeit betroffenen Menschen mit 60% abgespeist. Selbst in Italien wurde zunächst für die Dauer eines Jahres ein Kündigungsverbot erlassen, während die deutschen Unternehmen bei den Massenentlassungen freie Hand hatten.

Die EU als Selbstbedienungsladen der Konzerne

Insbesondere während der Pandemie konnten zahlreiche deutsche Großkonzerne ihre teilweise wegbrechenden Umsätze durch milliardenschwere  staatliche Finanzhilfen kompensieren. Während u.a. kleinere Mittelstandsbetriebe zu Tausenden schließen mussten, wurde für wenige Konzerne ein goldener Teppich ausgerollt. So erhielten die Lufthansa 6 Mrd. €, der Touristik-Konzern „TUI“ erhielt 1,24 Mrd. €, die Gruppe FTI Touristik 603 Mio. € und die MV Werften 300 Mio. €, um nur einige der Firmen zu nennen, die aus dem Topf insgesamt mit 27 Mrd. € bedient wurden. Hinzu kamen Kreditermächtigungen von 50 Mrd. €, die zusätzlich in Anspruch genommen werden konnten. Während die Konzerne damit ihre üppigen Vorstandsbezüge weiter zahlen konnten, gingen die Beschäftigten völlig leer aus. Die Bundesregierung hat von den bedachten Firmen noch nicht einmal die Verpflichtung abverlangt, während der Laufzeit dieser Kredite keine Entlassungen vorzunehmen, was dafür spricht, dass die Lobbyisten ganze Arbeit geleistet haben.

Ist die EU noch zu retten ?

Die anstehende Europawahl ist für zahlreiche Akteure im linken Spektrum erneut eine willkommene Gelegenheit, in ständiger Neuauflage zu verkünden, dass die EU sich (selbstverständlich) reformieren lässt. Es wird zwar konstatiert, dass die EU sich an einem „Scheideweg“ befindet oder aber, dass der Euroraum in einer „akuten Krise“ stecke, ja, es wird insbesondere auch konstatiert, dass das autoritäre „Einstimmigkeitsprinzip“ bei allen zentralen Entscheidungen der EU keine reformorientierten Vertragsänderungen zulasse, was ihre Vertreter*innen aber nicht daran hindert, in nahezu religiöser Gläubigkeit das „Modell eines solidarischen Europas“ zu verkünden. Für eine linke und antikapitalistische Alternative ist es deshalb notwendig, deutlich zu machen, dass die EU alles andere als ein internationalistisches Projekt ist. Sie war von Anfang an ein Kartell imperialistischer Staaten, denen es darum ging, die europäische Wirtschaft und die europäischen Konzerne im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu machen. Und um diese Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit beständig zu „reformieren“, greifen insbesondere die Kernländer der EU zu den Mitteln der Deregulierung des Arbeitsmarktes in Form der Ausweitung prekärer Arbeit in Gestalt von Minijobs, Leiharbeit oder Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, zur Absenkung der Lohnkosten oder zur Einschränkung sozialer Leistungen.

Trotz dieser unbestreitbaren Fakten versuchen jedoch zahlreiche linke Politiker*innen und Autor*innen einmal mehr, dem geneigten Publikum ihre Erzählung von einem „Sozialen Europa“, in dem beständig Milch und Honig fließt, schmackhaft zu machen. Um dies an einem aktuellen Beispiel zu verdeutlichen: im Heft 6/2023 von „Sozialismus.de“ haben Daphne Weber und Alban Werner einen Artikel mit der Überschrift „Die EU als Kampffeld“ veröffentlicht, mit dem sie die These vertreten, dass „die gegenwärtigen Reformen ….ein Zeitfenster für einen grundsätzlichen Wandel in Europa (öffnen).“ Mit Reformen verbinden sie u.a. den von der EU-Kommission zu Beginn der Pandemie beschlossenen Wiederaufbaufonds, der zum ersten Mal eine Vergemeinschaftung der Schulden vorsieht, die einige Zeit vorher noch von Merkel und einigen EU-Ländern vehement abgelehnt wurden. Dass mit diesen EU-Mitteln ebenso wie mit den nationalen Stützungsprogrammen in erster Linie einige wenige Großkonzerne unter ihre notleidenden Arme gegriffen wurde, während die Masse der Beschäftigten von Kündigung und abgesenkten Sozialleistungen betroffen war, dazu fehlt in diesem Beitrag jedes Wort. Klassenkampf war gestern. Insbesondere findet sich in diesem Beitrag kein Wort dazu, wer denn die gewünschten Reformen gegen die bestehenden Machtverhältnisse durchsetzen soll. Dass der Widerstand gegen die kapitaldominierte EU-Kommission doch offensichtlich in erster Linie von unten kommen muss, auch dazu verliert der Beitrag kein einziges Wort. So wird der Eindruck bestärkt, dass es nur einer fortschrittlichen Erzählung und einer „transformativen“ Gestaltungpolitik bedarf, um die neoliberalen Grundfeste der EU quasi zu erschüttern. Doch solange ein anderes Europa nicht von unten erkämpft wird, bleibt es ein ständiges „Illusionstheater“, von einer „Republik Europa“ oder von einer „europäischen Sozialunion“ zu träumen, während die realen Entwicklungen beständig in die entgegengesetzte Richtung laufen.