Auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Verfolgung, Hunger und Tod in ihren Herkunftsländern ist die Überfahrt nach Europa für Flüchtlinge oft die einzige Chance, all dem entkommen zu können. Von Yannic Dyck
In ihrer Not wagten nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in diesem Jahr bereits 130.000 Menschen die lebensbedrohliche Fahrt übers Mittelmeer; meist auf kleinen, kaum seetauglichen, stark überfüllten Booten. Für viele von ihnen endete die Fahrt nach Europa tödlich. So sind allein seit Anfang Juni 2.200 Menschen im Massengrab Mittelmeer ertrunken. Erst vor wenigen Tagen erreichte uns die schreckliche Nachricht, dass wieder einmal zwei Flüchtlingsboote bei dem Versuch, Europa zu erreichen, gesunken sind, wobei bis zu 700 Menschen den Tod fanden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) äußerte den Verdacht, dass eines der Flüchtlingsboote möglicherweise gezielt von Menschenschmugglern versenkt wurde, da die über 500 – größtenteils aus Syrien, Palästina, Ägypten und dem Sudan stammenden – Flüchtlinge sich geweigert hätten, auf hoher See in ein anderes Boot umzusteigen. Sollten sich die Angaben – die unter Berufung auf palästinensische Flüchtlinge, die das Unglück überlebt haben, abgegeben wurden – bestätigen, sei dies ein „Akt des Massenmords”. Neben diesem Boot, welches von Ägypten aus startete, ist ein zweites Flüchtlingsboot unmittelbar vor der libyschen Küste gesunken, was für über 160 Menschen den Tod bedeutete.
Diese beiden Tragödien machen einmal mehr deutlich, dass die Europäische Union die Seenotrettung von Flüchtlingen massiv vernachlässigt und Italien bei der Rettung der Flüchtlinge allein lässt. Unerträglich wirken in diesem Zusammenhang Äußerungen von Bundesinnenminister de Maizière in einem Brief an die EU-Kommission von letzter Woche, in denen er europäische Verantwortung als Abwehr von Schutzsuchenden definiert – und nicht als Auftrag, Menschenleben zu retten. Doch mit seiner Meinung ist de Maizière in Europa nicht allein. Das Menschenbild, welches hinter solchen Aussagen steht, bestimmt seit Jahren die europäische Abschottungspolitik. Realistische und legale Möglichkeiten, Europa zu erreichen und dort einen Asylantrag zu stellen, werden nicht geschaffen. Stattdessen werden bestehende Fluchtwege durch eine Vielzahl kostspieliger Grenzsicherungsmaßnahmen systematisch verbaut, so dass Flüchtlingen fast ausschließlich die Möglichkeit bleibt, die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer zu wagen und somit das Risiko des Ertrinkens in Kauf zu nehmen.
Um sich künftig verstärkt vor den Opfern von Kriegen, Bürgerkriegen, Gewaltexessen und Überlebensnot abzuschotten und die Flüchtlingsabwehr zu perfektionieren, ruft die EU die Mission „Triton“ ins Leben, welche das Ziel verfolgt, Flüchtlinge über die europäische Grenzschutzagentur Frontex abzuwehren. Diese Politik, die Flüchtlinge als abzuwehrende Bedrohung betrachtet, ist zutiefst menschenverachtend. Hinzu kommt, dass viele Menschen erst durch die fatalen Folgen der imperialistischen Außen- und Wirtschaftspolitik der EU zur Flucht genötigt werden. So tragen die Staaten der EU u.a. Verantwortung für Waffenlieferungen in Krisenregionen (aktuell in den Irak, nach Israel usw.), mitgeführte Kriege (z.B. in Afghanistan), die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit brutalen Diktaturen (z.B. mit Saudi-Arabien oder vor der Arabischen Revolution mit nordafrikanischen Staaten wie Ägypten), sowie die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung in der neokolonialen Welt (bspw. durch die Zerstörung der Existenzgrundlagen für westafrikanische Fischer_innen durch internationale Fischereiabkommen und industrielle Leerfischung der Meere im Interesse der Profitmaximierung europäischer Großkonzerne). Dadurch werden Fluchtursachen geschaffen. Die Gewinne einer solchen Außenpolitik werden gerne in Kauf genommen, die Verantwortung für die Opfer, welche diese hinterlässt, wollen de Maizière und die Mehrzahl seiner Amtskolleg_innen jedoch nicht wahrhaben. Nach dem geäußerten Willen des Bundesinnenministers soll Frontex Italien nur bei der Registrierung, beschleunigten Prüfung und Rückschiebung von Schutzsuchenden unterstützen, was eine unzulässige Ausdehnung der Aufgaben von Frontex darstellt. Auf diese Weise wird der europäische Flüchtlingsschutz mit deutscher Hilfe weiter ausgehebelt und neue Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer bewusst hingenommen und somit legitimiert.
„Frontex plus” soll im November starten und die – nicht zuletzt infolge zivilgesellschaftlichen, öffentlichen Drucks – von der italienischen Regierung ins Leben gerufene Aktion „Mare Nostrum“ ersetzen, welche voraussichtlich im Oktober ausläuft. Diese bewirkte, dass Kriegsschiffe zu Rettungsbooten umfunktioniert wurden und die Menschen aufnehmen konnten, welche auf übervollen Kähnen versuchten, nach Europa zu gelangen, deren Boote zu sinken drohten oder schon gesunken waren. Seit Beginn von „Mare Nostrum“ hat die Marine inzwischen 120.000 Flüchtlinge zu italienischen Häfen geleitet oder aus überfüllten Booten geholt. Doch da Italien bei der kostenspieligen Rettungsaktion keine finanzielle Unterstützung der anderen EU-Staaten erhält und da die EU kein Interesse an flächendeckender Seenotrettung von Flüchtlingen hat (was mit dem zynischen Argument begründet wird, dass Flüchtlinge dadurch nur angezogen und nicht abgeschreckt würden) soll Frontex künftig für die „Sicherung der Meere” zuständig sein. Christian Jakob spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „Verabredung zum Sterben lassen”.
Um effektiv gegen das Massensterben vorzugehen, bedarf es jedoch europäischer Unterstützung Italiens bei der Seenotrettung. Anstatt Flüchtlinge über inhumane Militärarstrategien abzuwehren, muss die Seenotoperation „Mare Nostrum“ fortgesetzt und auf internationale Gewässer (u.a. auch vor die Küsten Libyiens) erweitert werden. Dazu sind finanzielle Mittel seitens aller europäischer Staaten aufzubringen. Weitere Frontex-Missionen sind hingegen kategorisch abzulehnen. Wenn Europa zuschaut, wie tausende Menschen vor seinen Küsten ertrinken, dann ist das nichts weiter als Beihilfe zum Massenmord. Damit muss endlich Schluss sein!
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert von der EU, legale und sichere Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende zu schaffen und statt in Flüchtlingsabwehr verstärkt in Flüchtlingshilfe zu investieren.
Yannic Dyck
Zuerst erschienen auf der Webseite des Flüchtlingsrates Niedersachsen